Berlin, Dienstag den 15ten November 1831
Geliebte Großmutter!
Ein fürchterlicher Schlag hat uns getroffen: so hart er aber für uns Kinder auch seyn mag, so überwiegt der Schmerz der Mutter doch Alles – sie, die ganz Liebe, ganz Gefühl ist. Wir haben uns so viel mit ihr zu beschäftigen, daß wir kaum noch Zeit haben, über unsren eignen Verlust recht nachzudenken und ihn recht zu begreifen: darüber werde ich mein ganzes Leben zu denken haben – ich, der ich eben erst anfing zu verstehen, was ich an ihm hatte. Sein Geist lebt in seinen Werken; diesen mir zu dem eignen zu machen, sey nun mein Bestreben. Schon hatte der Vater angefangen, seine beiden Vorlesungen zu halten, mit der größten Erwartung und Liebe ging ich daran – und nun ist es aus, Alles aus. –
Je größer der Verlust ist, der das Gemüth unsrer lieben Mutter ganz erfüllt, desto mehr hält sie auch an dem fest, was ihr noch bleibt. Wie oft habe ich sie in diesem Sommer sagen hören: Ach! mein liebes, liebes Mutterle, könnt‘ ich sie nur hier bei mir sehen; in ihrem Phantasiren während ihres Fiebers war Dein Bild und das ihrer | Schwestern und Brüder beständig vor ihrer Seele; vielleicht ist jetzt das Wiedersehen näher gerückt: mit welcher heißen Liebe spricht sie von Dir! gewiß nur in Deinen Armen und ihrer Geschwister kann sie Ruhe finden; wie fließen ihre Thränen, wenn sie an Deinen Schmerz denkt! der beste Trost, den wir ihr bis jetzt noch geben konnten und der sie immer am meisten beruhigte, war die Erinnerung an Euch und die Hoffnung des Wiedersehens.
Die nächste Beruhigung, welche unsere Mutter findet, ist jetzt die allgemeine Theilnahme an unserem Unglück und insbesondere die der nähern Freunde: sie alle sind wie vom Donner gerührt; wie Viele haben nicht aus seinem Geist geschöpft und darin Beruhigung gefunden! – So eben höre ich, daß unsre Freunde es durchgesetzt haben, daß unsre geliebte Leiche nicht nach dem Kirchhoff der an Cholera Verstorbenen gebracht werden soll; er wird seine Ruhestätte unweit des Grabes von Fichte und von Solger finden, wie er es selbst ein Mal zufällig als Wunsch geäußert hat: dies war doch gewisser Maaßen eine Freude, die der Mutter in ihrem | Schmerze zu theil wurde.
Sanft und ruhig war das Ende unsres herrlichen Vaters: alle schrecklichen Symptome der Cholera fehlten bei ihm, mit wenigen Schmerzen ging es vorüber. Die letzten zwei Stunden blieben wir ganz an seinem Bette, Manuel an seiner Seite, ich unterstützte sein liebes Haupt. Der Athem wurde in den zwei letzten Stunden beklommen, und tönte laut; mit einem Male wurde er schwächer; ein sanfter Schlaf, glaubten wir, käme über ihn: – es war aber sein Todesschlaf: lange blieben wir ruhig in derselben Stellung, bis wir plötzlich von der schrecklichen Gewißheit überzeugt wurden.
Er starb am Montag, den 14ten November um 5¼ Uhr Nachmittag; er sollte schon am Dienstag (heute) Abend begraben werden nach Bestimmung der Aerzte: durch Vermittlung aber ist es auch zugestanden worden, daß erst morgen Nachmittag um 3 Uhr das Leichenbegängniß erfolgen wird.
Die Krankheit selbst dauerte nicht länger als 30 Stunden.
In seinen herrlichen Vorlesungen der Religionsphilosophie hörte ich ihn einst sagen: „Von dem Größesten, was je gesagt worden, ist der Ausspruch Christi: Selig sind, die da reinen Herzens sind, denn |
sie werden Gott schauen “
. – Mein Vater, dieser edle, große Geist ist nun in der reinen Anschauung dessen, was er schon hier auf Erden als die alleinige und höchste Wahrheit erkannte. – Dies ist mein Trost und meine Beruhigung. – Lebe wohl!
Im tiefsten Schmerze
Dein
Dich liebender Enkel Karl Hegel.
Hegel, KarlKarl Hegel
HiKo
11657075X
Berlin52.5170365,13.3888599Hauptstadt des Königreichs Preußen und ab 1871 auch des Deutschen Reiches.
Stadtarchiv (StadtA) Nürnberg
Rep. E 29/II, Familienarchiv Tucher; Historischer Verein für Mittelfranken, Nachlass Georg Martin Thomas Nr. 280 (Altsignatur: Nr. 127).
Stadtarchiv Nürnberg
1900
Privatbesitz
.
Privatbesitz
1000
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, Helmut: Karl Hegel – Historiker im 19. Jahrhundert. Unter Mitarbeit von Katja Dotzler, Christoph Hübner, Thomas Joswiak, Marion Kreis, Bruno Kuntke, Jörg Sandreuther und Christian Schöffel (= Erlanger Studien zur Geschichte, Bd. 7/Katalog zur Ausstellung des Instituts für Geschichte der Universität Erlangen-Nürnberg vom 20. November bis 16. Dezember 2001), Erlangen, Jena 2001.
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Hegel, Georg Wilhelm FriedrichGeorg Wilhelm Friedrich Hegel https://www.deutsche-biographie.de/sfz28648.html#ndbcontent11854773917701831 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich (1770–1831), Philosoph, Ehemann Maria Helena Susanna Hegels, geb. Tucher (1791–1855), Vater Karl und Immanuel Hegels , von 1808 bis 1816 Gymnasialrektor und Schulrat in Nürnberg, ordentlicher Universitätsprofessor für Philosophie von 1816 bis 1818 an der Universität Heidelberg und von 1818 bis 1831 an der Universität Berlin.
Hegel, Georg Wilhelm FriedrichGeorg Wilhelm Friedrich Hegel https://www.deutsche-biographie.de/sfz28648.html#ndbcontent11854773917701831 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich (1770–1831), Philosoph, Ehemann Maria Helena Susanna Hegels, geb. Tucher (1791–1855), Vater Karl und Immanuel Hegels , von 1808 bis 1816 Gymnasialrektor und Schulrat in Nürnberg, ordentlicher Universitätsprofessor für Philosophie von 1816 bis 1818 an der Universität Heidelberg und von 1818 bis 1831 an der Universität Berlin.
Hegel, Immanuel (Manuel, Emanuel)Immanuel HegelJurist/Konsistorialpräsident der Provinz Brandenburg11657072518141891 Hegel, Immanuel (Manuel, Emanuel) (1814–1891), Bruder Karl Hegels, studierte von 1832 bis 1834 und von 1835 bis 1836 Jura an der Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin, von 1834 bis 1835 an der Ludwigs-Maximilians-Universität in München, trat 1836 in den preußischen Staatsdienst ein und war als Verwaltungsjurist in verschiedenen Verwendungen des Königreichs Preußen, vor allem im Staatsministerium, tätig, wurde 1865 Präsident des Konsistoriums der Provinz Brandenburg, heiratete 1845 Friederike Flottwell (1822–1861) und 1865 Clara Flottwell (1825–1912), beide Töchter des oftmaligen preußischen Oberpräsidenten und Staatsmanns Eduard Heinrich Flottwell (1786–1865), war u. a. Vater des preußischen Verwaltungsbeamten und Politikers Wilhelm (Willi) Hegel (1849–1925), war 1856 Taufpate seines Neffen Georg Hegel (1856–1933).
Fischer, Georg Ludwig FriedrichLudwig Friedrich Fischer121017884218071831Fischer, Georg Ludwig Friedrich (1807–1831), war der älteste Sohn Georg Wilhelm Friedrich Hegels (1770–1831) aus einer vorehelichen Verbindung mit seiner Zimmervermieterin Christina Charlotte Johanna Burkhardt, geb. Fischer, und lebte ab 1817 in Heidelberg und Berlin einige Jahre in der Familie des Philosophen, besuchte in Berlin auch das Französische Gymnasium.
Hegel, SusannaSusanna Hegel-18121812Hegel, Susanna (* † 1812), Tochter Georg Wilhelm Friedrich Hegels (1880–1831) und Maria Helena Susanna Hegels, geb. Tucher (1891–1855), Schwester Karl Hegels (1813–1901).
Tucher, Sophia Maria Friederike, verh. MeyerSophia Marie Friederike Tucher, verh. Meyer, „Tante Fritz“-18001863Tucher, Sophia Maria Friederike (1800–1863), Ehefrau des Diplomaten, Schriftstellers und Bevollmächtigten Mecklenburgs beim Bundestag des Deutschen Bundes in Frankfurt am Main Philipp Anton Guido Meyer (1798–1869), Sohn des sog. „Bibel-Meyer“, Johann Friedrich Meyer (1772–1849). „Tante Fritz“ war eine Schwester der Mutter Karl Hegels und seines Schwiegervaters Johann Sigmund Karls Tucher (1794–1871), Schwägerin seiner Schwiegermutter Maria Magdalena Tucher, geb. Grundherr (1802–1876). Siehe auch: Meyer, Sophia Maria Friederike.
Fichte, Johann Gottlieb Johann Gottlieb FichtePhilosoph11853284717621814Fichte, Johann Gottlieb (1762–1814), aus der Oberlausitz stammender Philosoph und wichtiger Vertreter des „Deutschen Idealismus“, von 1794 bis 1799 Professor an der Universität Jena, danach Lehrtätigkeit an verschiedenen Universitäten (Erlangen, Berlin, Königsberg) und 1811/12 erster Rektor der neugegründeten Berliner Universität.
Solger, Karl Wilhelm FerdinandKarl Wilhelm Ferdinand SolgerPhilosoph11874878517801819Solger, Karl Wilhelm Ferdinand (1780–1819), aus Schwedt an der Oder stammender Philologe und Philosoph des „Deutschen Idealismus“, der 1811 an die Berliner Universität berufen wurde und 1814/15 deren Rektor war.
Barez, Stephan FriedrichStephan Friedrich BarezArzt11688343X17901856Barez, Stephan Friedrich (1790–1856), preußischer Ministerialbeamter, Arzt am Totenbett Georg Wilhelm Friedrich Hegels.
CholeraAuch Asiatische Cholera genannte schwere bakterielle Infektionskrankheit mit verschiedenen Ausprägungen, die verbreitet im 19. Jahrhundert epidemisch und pandemisch auftrat.
LeichenbegängnißLeichenbegängnis als feierliche Beisetzung von Verstorbenen; Beerdigung, Begräbnis.