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Immanuel Hegel an Karl Hegel, Gastein, 9. September 1834

Lieber Karl!

Zwar unbekannt mit Euren Schicksalen und Plänen, die Euch jetzt umgeben und bewegen hoffe ich doch nach aller Wahrscheinlichkeit daß dieser Brief Dich und wohl auch die Mutter noch in Heidelberg erreichen werde.1 Ich schreibe ihn an Dich weil Du der Heidelberger Post bekannter sein wirst, als die Mutter, und Du nöthigenfalls auch eine Ordre gegeben hast. Was die Schicksale und Pläne anbetrifft, so kann keiner mehr von deren Unbestimmbarkeit überzeugt sein, als ich, der lebenslustig wie ein wahnsinniger Häring2 in die Welt hinausläuft, seiner selber immer gewiß, und wo er mit seinem Körper, auch ganz mit seiner Seele ist. So sitz ich jetzt in Gastein, vor einer Woche in Gedanken in Wien laufend, abreisend mit dem Plan nach Italien hinüberzustreifen, gestern überlegend, ob denn möglich sey, daß wir in Wirklichkeit über das Adriatische Meer in der Nacht bei Mondschein hinüberfahren, in der Ferne die Istrischen Alpen verschwinden laßend, um am Morgen mit aufgehender Sonne in Venedig einzuziehen. Mit einigem Übermuth war dise Reise angelegt. Zuerst bescheiden auf Salzburg und Tyrol beschränkt, da reisen nun aber so viel Menschen nach Venedig mit 60–80 fl3, heute und morgen reist gerade Einer ab. Deiniger wird dies plausibel; ich bin zu allem gleich bereit: die Ausführung offen aller Schwierigkeit: Auf! mit dem Wäegle nach Venedig! Aber – nun läuft man sich die Füße voller Blasen, hält sich nirgends auf, das Geld schwindet, trotz dem, daß man kein Mittagessen hält, und beschlossen hat, keinen Tropfen morgens zu trinken (freilich wurde doch einer getrunken) und zuletzt kommt man am 11ten, statt am 9 ten Tag nach Gastein! – Jetzt ist Triest das nächste Ziel: die Karte wird genommen, Was sieben der stärksten Tagemärsche bis dahin! und über die 6000 Fuß4 hohen Taurischen Alpen! Da hat nun ein gewaltiger Esel dem Schubert vorgelogen, er wäre in 3 ½ Tagen hingelaufen: der glaubts, läßts drucken, und wir Esel glaubens auch, o Jammer! – Nun wird meditirt; Triest muß wegen der theuren Ueberfahrt aufgegeben werden, um doch Venedig genießen zu können. Bis dahin hatten wir, im Vertrauen auf unsere gestählten Lenden und gehärteten Sohlen, in 6–7 Tagen zu kommen: morgen hoffen wir über das Taurisch Gebirg hinüber zu kommen; dann bleiben wenig Gebirge mehr übrig, und es geht sanft Berg ab bis ans Meer: wir machen einen herrlichen Weg, über Lienz, Silian nach Pieve di Cadore, Belluno etc. In Venedig bleiben wir 5–6 Tage, werden dort Schmidt antreffen, der gerade wie wir in den Postwagen stieg von zu Haus Geld erhielt und auch über Tyrol nach Venedig geht. D. h. zu Wagen: Padua, Verona, Lago di Guarda, Trient, Meran und Inspruck gehen wir nach München zurück. Bis 12ten October sind wir wieder in München, schon wegen Schwindsucht unserer Beutel, die ja so sehr an der Brust leiden und gleich entkräftigt in Ohnmacht sinken, wenn sie eine etwas angreifende Tour versuchen. Zum Unglück haben auch Deiniger und Spiegel so wenig Geld im Hinterhalt, und pumpen daher nichts, um auch für den Winter noch etwas zu behalten. Deswegen und weil gegen Ende der Reise wir gewiß sehr erschöpft sein werden, und des Fußreisens müde, was jetzt schon in Augenblicken eingetreten ist; endlich wegen der Gefahr des Verfallens, weil wir nicht so genau den Tag der Ankunft bestimmen können, halt ich es für rathsamer, daß Du uns nicht entgegenreist; Du würdest doch nicht, wie Du dann wünschst, das Gebirg genießen können. In Venedig hoff ich von Dir Nachricht über Deine Pläne zu erhalten und werde auch in Inspruck auf der Post nach Briefen fragen, wenn Du mich von irgend einer Sache noch auf der Reise benachrichtigen wolltest. Wenn ich von Dir keinen Brief in Venedig finde, schreib ich auch Dir nicht, weil ich nicht weiß, wo ich Dich zu treffen habe. –

Wir haben bisher herrliches Wetter gehabt: nur zu Fuß, ja oft furchtbar; daß ich durch Tuchrock, doppelt gefüttert (wenn ich ihn anhabe) so schwitze, daß das ganze Staubhemd auf dem Rücken Patschnaß, ja sogar an den Beinen und am Hintern auch die Hosen zum Spott oder Mitleid vorübergehender Weiber oder Kinder, ist jetzt gewöhnlich; ich spüre es gar nicht mehr. In den ersten Tagen wurde ich magerer; jetzt hat es sich wieder in beßerer Substanz hergestellt. – Wir sind bis Traunstein per Post gefahren; dann von Traunstein (hinterm Chiemsee, 2 Stationen vor Salzburg) am 1sten Tag bis Reichenhall: dies liegt schon mitten im Salzburger Gebirg, in einem schönen weiten Alpenthal: der Fuß des Alpengebirgs ist sehr schön: von der wunderbarsten Fruchtbarkeit; und so heiter auch die grotesken Formen der sich einzeln kegelförmig abschneidenden Berge; die Thäler selbst sind nicht so grandios, genial, einfach und immens, wie die Tyrolerthäler, deren Formen wirklich sublim sind; die schönste Alpe müßte doch in der Schweiz sein! je weiter nach Osten, desto geschwächter, mittelmäßiger und durchaus auch nicht so malerisch: oft überraschende Gruppierungen der Berge, und wenn diese hoch und in ihrer Mitte statt einem mittelmäßig geformten Grund ein See von dunkelgrüner Farbe liegt, so schaust Du freilich auch hir Bilder von wunderbarer Schönheit: dis sahen wir beim Königssee am 2ten Tag von Reichenhall nach Berchtesgaden und Königssee und von diesem wieder zurück nach Berchtesgaden. Am dritten Tag nach Hallein (Österreich) dort das berühmte Salzbergwerk besucht und durchrutscht und am Nachmittag im stärksten Regen nach Salzburg; doch am andern Tag noch schöneres Wetter: hir blieben wir 2 Tag: das liegt nun auch so glücklich am Anfang des Gebirges, mit den größten reichsten Mitteln für eine Gegend ausgestattet. Auf der einen Seite der schön und so mannigfaltig geformte Berg sich einfach großartig schließend: in das Thal seine kleinen struppig Laub und Tannenbedeckten Hügel schickennd: Dises Thal mit den freundlichsten Wiesen, und einzelnen netten Häusern zerstreut geschmückt; an dem schönen Abhang der Burg Wehrschlösser, Kirchen oder Klöster: In der Mitte an der heftigen Salzach schön nah Hügele umschlossen langgestrekt in fast italienischer pittoresker Bauart die Stadt mit fürstlichen Gebäuden: auf jenen Hügeln Klöster oder schöne alte Mauern mit zackigen Zinnen und auf der höchsten Spitze die Burg. Hir standen wir oft und lang und sahen auf der Einen Seite in das Gebirg hinein, auf der andern wieder die fruchtbaren Ebenen hinaus. – Von Salzburg machten wir eine sehr schnelle Tour über den Wolfgangs See nach Ischl: hir hielten wir uns den Vormittag auf, bestiegen einen kleinen Berg, um dis schöne Thal zu übersehen, und gingen am Nachmittag nach Halstadt. Hir wird eine herrliche Senn von dem mächtigsten Gebirg eingeschlossen: dise hatten wir zu übersteigen; wir gingen nach Gosau, Annaberg bis St. Martin. Am Sonntag von hir über St. Johann nach Lend und gestern endlich das romantische Gasteiner Thal hinauf bis Wildbad Gastein: hir nähern wir uns wieder Tyrol, zwar noch nicht bei jener ungeheuren Macht jener wunderbaren lieblichen Anmuth, aber doch schon diese grandios einfachen Formen, und hier möchte ich fast sagen, obgleich weniger Ruhm, wie die Straßburger Münster und die Tyroler Alp, aber gediegener erster: Wildbad Gastein liegt am Fuß des Groß-Glockner; Wegen der Wäsche und um der Rast willen blieben wir gestern Nachmittag und heute hir; Morgen über die Tauern!

Adieu, lieber Karl: bald heitres Wiedersehen; Adieu theure Mutter Dein Sohn Immanuel.

Gruß von Deininger und Spiegel.