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Immanuel Hegel an Karl Hegel, Venedig, 17./18. September 1834

Lieber Karl!

Mit unendlicher Freude fand ich gestern Deinen Brief3 auf der Post hier vor; mit doppeltem Genuß bin ich in Venedig, da ich von Euch Nachricht habe, mich von Euch hier mit Liebe begleitet weiß und ebenso in Venedig Euch mit innigster Liebe umgeben kann. – Ich habe allerdings mit dieser Reise einen weiten Blick wie nie in die Welt hinein gethan: es ist nichts geringes in Italien gewesen zu sein! Vielleicht habe ich vom kurzen Schritt in das Land hinein wenig mehr als dies Allgemeine davon getragen. Aber Positives läßt sich überall lernen, nicht dieses Allgemeine.

Wir sind durchaus mit der Sprache unbekannt; die elendigsten Anfangsgründe, miserable Redensarten haben uns glücklich bis hirher verholfen und werden uns ebenso glücklich nach Deutschland zurückbringen. Von historischen oder antiquarischen Untersuchungen ist bei uns ebenso wenig die Rede, eher von Kunstanschauungen: aber wie flüchtig und vorübergehend! Aber dies Bild des Hinübergangs nach Italien, das Herabsteigen vom Gebirg, endlich von Venedig: das ist es, was wir genießen und davontragen! – Ich schrieb Dir das letztemal von Gastein aus.4 Am andern Tag gingen wir über die Tauern nach Kärnthen hinüber; es war nicht so beschwerlich, als wir befürchteten, dann durchs Möhlthal über Obervellach bis Winkler, und am Abend noch übers Gebirg nach Tyrol ins Thal von Lienz. Dis waren an die 12 Gehstunden und sehr angreifend, dabei der Weg uninteressant: ein mittelmäßiges Thal, und der Weg ebenso langweilig. Wie ganz anders, als wir plötzlich an der Grenze von Tyrol standen: und gegenüber eine gewaltige zackige basaltisch geformte Gebirgskette, in der Tiefe die Drau, das weite Thal entlang, das breit, sich hinten mit einer andern Kette schloß; am obern Ende aber an einem sanften Berge die Stadt Lienz und die Ruine des alten Schlosses zwischen den sich verbindenden Flüssen, die vereint hernach die Drau genannt werden. Hir kehrten wir in einem gemüthlichen Wirtshaus von Schubert empfohlen, ein, und fanden wie gewöhnlich, daß bei einer Fußreise der höchste Genuß doch immer im Ausruhen und 5 bestände. – Obgleich marode machten wir uns am dritten Tag auf nach Innichen und durchliefen wieder in der furchtbarste Hitze 12 Poststationen. Wir waren im Pusterthal, welches von sanften Bergen eingeschlossen, bald enger, bald breiter, öfters von Hügeln durchschnitten, in vielfachen Windungen fortläuft. Auf der Sonnenseite sind die Berge bebaut und mit den endlosen Gebirgshäusern in fast unterbrochner Linie hoher und tiefer geschmückt, oft auch Ueberreste alter Burgen dazwischen. Im Thal selbßt die heitersten Städtchen, Dörfer und einzelne Meierhöfe von der glücklichsten Heiterkeit eines zufriedenen Lebens. – Am Samstag6 endlich machten wir den Schritt nach Italien: eine neu gebaute Chausee von sehr großartiger Anlage führte uns hinüber, 10 Poststationen lang trafen wir nur ein einziges Miethshaus; die Gebirge sind plötzlich ganz anders geformt, nicht mehr in Ketten, sondern einzelne langgezogene Berge schichten sich in einander, sie sind steil in Absätzen das Gegentheil von der wundersamsten fantastischen Gestaltung, so seltsam neu man sie öfters auf venetianischen oder mailändischen Bildern findet. Der erste Ort, den wir fanden, war Ampezzo und Kortina. Kein Mensch, außer den Miethsleuten, verstand mehr deutsch; plötzlich in Gestalt, Physiognomie, Postament, 7 ein ganz neues Volk: welchen überraschenden Eindruck empfanden wir bei diesen plötzlich frischen lebendigen Bildern der prägnantesten Volkseigenthümlichkeit! Der Wein war nicht mehr sauer, wie Essig, sondern süß, etwas muscierend, mit dem Sonnenstiche gesiegelt, und leicht berauschender Art. Die Wirthshäuser waren jetzt freilich schlechter; man bekommt nichts als Reißsuppe und Rindfleisch und die folgende Nacht mußten wir auf dem Heuboden wegen Mangel an Betten zubringen. – Am Sonntag8 kamen wir nach Perarol: Das Gebirg wird milder: es fingen die Weintrauben und Pfirsiche an, bald sahen wir den ersten Weinberg. Gegen Longarone zu öffnet sich nun das Gebirg, die fernen Gipfel treten mächtiger vor; nach der Ebene hin ziehen sanftere schöne Berge; das Thal wird weiter, unendlich fruchtbar. Ein Städtchen folgt dem Andern, alle von der glücklichsten Bauart und wohlhabend; am Sonntag alle Italiener auf der Straße, sich unterhaltend, spaziren gehend; in dem einen Ort spielten sie mit Kugeln, am andren schlugen sie den Ball; karakteristisch braun die Gesichter sich selbstzufriden ihres Daseyns erfreuend, sich in ihren ebenso geistreich karakteristischen Zuständen bewegend; sich nicht mit den Sachen lange quälend, daß sie bestmöglich solid eingerichtet seien; sonst alles ist bei ihnen so provisorisch momentan eingerichtet; mit geistreicher Erfindung geht etwas ebenso bequem, als zweckmäßig einzurichten; ob es aber wirklich der Sache genügt, hinreicht, darnach fragen sie nicht und haben auch nicht danach zu fragen. Denn so binden sie den Wein nur auf, an Bäumen und verbinden die Streben der Stöcke miteinander; da gewinnen sie nun dise kostbaren Weintrauben, so fuß, schmackhaft; sie stampfen sie wiederum nur mit Füßen aus, schmeißen die Hälfte weg, lassen den Wein kaum gären und trinken den dadurch 9 Wein von Einem Jahr zum andren: in einem schlecht, im Andren gut, wie es das Jahr giebt; freilich würden sie pflegen, beschneiden, grasen etc.; da müßte ein Uebermaaß des Erzeugten entstehen, ein Reichthum, in dem eben kein solcher Genuß mehr vorhanden wäre. – In Longarone schon gutes Wirthshaus: treffliche Reißsuppe: in Perarol weiter Verfall beim offenen balcon gegessen. – Angezeigt waren dann letzte 4 starke Tagreisen, in denen wir Pragaz ausgehalten haben, die mir ein gutes Zeugniß der Kraft meines Körpers gegeben, entschlossen wir mit Postkalesche nach Trewiso zu fahren. Immer bergab nahmen die Weinberge zu; in den Städtchen sahen wir bald große Körbe von Pfirsichen und Feigen überall in der Natur, in den Städten, in deren Zuständen die frischeste schönste reichste Heiterkeit: Eben nur mehr Italien in seinem Reichthum, dem Zauber seiner Schönheit. Bei 10 traten wir ganz aus dem Gebirg und sahen jetzt wieder die unendliche Ebene: auf den vorliegenden Hügeln Städtchen und einzelne Villen, am Rande des Gebirg eine Burg, Citadellen, Kirchen; die ganze Alpenkette lag jetzt wieder vor unseren Augen ausgedehnt. An beiden Seiten des Weges dehnten sich in unendlichen Gebieten die Kornfelder aus; in Linien dazwischen die Weinfeste, durch strotzende Guirlanden verbunden, die sich einsenkt aus der Wucht der Früchte; die Villen fingen allmählig an, zwar meist verfallen, aber doch oft höchst malerisch. Von Treviso bis ans Ufer des Meeres ist es endlich nur eine Reihe von Villen von den verschiedensten Bauarten in den freundlichsten Gärten liegend. Von Tarviso bis Mästre mit dem Vetturin, hier auf die Gondeln gesetzt und beim größten vollsten Mondschein Fahrt nach Venedig; die vorüber fahrenden Gondeln, Gesang der Gondoliere, Anruf der Söldnerwache vor der Bastion, endlich das weite Meer, hinten im Dunkel Venedig immer wieder hervortauchend. Endlich in Venedig selbst, wirklich, wirklich da! Es war 11 Uhr, alles noch belebt in den Boutiken: Endlich sehe ich den Markusplatz bei Mondschein.

Wir werden wohl bis Montag oder Dinstag hierbleiben; an Bildern am wichtigsten Titian, besonders Paul Varnese, Bellini schön, doch nichts Neues, Tintoretto zum 11. –

Wir gehen dann über Verona etc. wie ich Dir schrieb; wenn Du so früh nach München kommst, so reise ja nach Inspruk mir entgegen; es thätte mir sehr leid, daß Du München ohne mich kennenlernen solltest; wir reisen dann gemächlich, mehr zum Ausruhen durch Innthal nach Achensee, durch Achethal nach Tegernsee. Aber schön Wetter muß sein, so wird es wohl sein; Deiniger und Spiegel werden zwar wahrscheinlich dann schneller nach München gehen; ich würde mich aber unendlich freuen mit Dir diese Tour durchs Gebirg zu machen. Dieser Theil ist mir doch fast am liebsten geblieben! 12

Ich erwarte Dich also zunächst in Inspruck. Es wird Dich gewiß erfreuen: in 13 finden wir wohl noch Ratzebachs, die da im Herbst hinzogen. – All Deine Nachrichten von der Mutter erfreun mich unendlich; der Brief trifft sie wohl noch bei Dir: der Rosenhain, wenn sie noch da: meine herzlichsten Grüße etc.14 Deine für mich so schmeichelhaften Nachrichten von Niethammer haben mich tief gefreut. Solche Worte von dieser Art erfreuen doppelt, da sie unter 4 Augen nie geschehen. Nun lebwohl, lieber Karl, lebe wohl, liebe Mutter; gesund bin ich innerlich, und am Körper, bis auf die Füße, die noch etwas angegriffen. Lebt wohl Euer Immanuel.


den 18ten September.

P. S. Das Bett für Dich in meinem Zimmer geschieht auf meinen Antrag.