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Georg Gottfried Gervinus an Karl Hegel, Göttingen, 15. Mai 1837

Lieber Hegel.

Ich antworte Ihnen spät dießmal. Vielerlei ist die Ursache. Erst wollte ich Ihnen gern eine bestimmte Antwort wegen Italien1 geben, allein dieß verzögerte sich so, daß ichs selbst jetzt nicht kann. Ich muß natürlich wegen finanzieller und Urlaubs- und tausend anderer Rücksichten noch weitläufige Vorbereitung treffen, deren mich alle Raschheit und Festigkeit meines Entschlusses nicht überhebt. Wie nun die Sachen stehen, kann ich nur soviel sagen daß die Reise doch wohl bis Frühling 1838 aufgeschoben werden wird. Indessen kann sich dieß immer noch dahin ändern, daß wir Winter2 schon gehen. Meine Gesundheitszustände müssen das meiste dabei entscheiden. Da leider kein Sommer zu kommen scheint, der bei mir so viel hätte gut machen müssen, so fürchte ich sehr, daß mir auf Herbst3 das Bedürfniß eines neuen Lebens zu dringend werden wird, als daß ich länger aufschieben kann. Sollte es nun so kommen, so müssen Sie einen eben so schnellen und raschen Entschluß fassen, als ich. Warum wollen Sie Ihr Probejahr nicht später abhalten? Sie werden nach dem Examen4 die stärkste Erholung so nöthig haben, daß die Reise grade dann am besten angewandt sein wird. Und es wäre doch schade, daß wir um ½ Jahr Differenz diese Reise nicht zusammen machen sollten. Wegen Ihren ! Vorbereitungen5 erlauben Sie mir Eine Bemerkung. Ich würde an Ihrer Stelle weder Italienisch lernen, wenn Sie es nicht ohnehin thun wollen, noch namentlich archäologische und antiquarische und kunstgeschichtliche Studien machen, wie Sie vorzuhaben scheinen; es müßte denn sein, daß Sie 1½ – 2 Jahre bleiben wollen. Wollen Sie sich aber mit uns mit 6 – 8 Monaten begnügen, so ist dieß nicht allein mein Rath, sondern ich wollte Sie erlaubten mir Ihnen hier zu gebieten. Ich mache die Reise zum 2ten mal und bitte Gott, dass er mir dabei alle Gelehrsamkeit aus den ! Kopf treibe, damit ich die Natur und die Kunst des Landes noch Einmal ganz ungetrübt und ungestört von Gedankenwerk und Beziehung und Nachdenken auf mich wirken lasse. Das Erstemal gar muß dieß sein und man hat 8 Monate vollauf zu thun, um nur diesen reinen Eindruck zu empfangen, das heißt um nur ohne Übersetzung all die Sachen zu sehen. Lesen Sie Göthes Briefe aus Italien, lesen Sie etwa Winkelmanns Hauptsachen durch – oder Wollen Sie sich gar an Meyers trockne Kunstgeschichte wagen, das wäre das Äußerste was ich Ihnen zugäbe. – Träte nun irgend ein anderes Hinderniß entgegen, Cholera und dergleichen so wäre das freilich höchst übel. Was Ihre andere Vermuthung betrifft, so ist leider noch keine Hoffnung da, die die Reise Hoffnung störte. Ist es Victories Jugend oder meine Kränklichkeit, ich weiß nicht. Aber wir sind auch so glücklich, um so mehr, da ich in dieser Hinsicht immer guter Hoffnung auf die Zukunft bin, wenn es sich mit mir bessert; und dann freue ich mich der reinsten Jugendlichkeit Victories auch, um die es wahrlich so frühe schade wäre.6

Dies also ist der erste Grund, der meine Antwort den ersten Monat nach Ihrem Brief7 verschob. Der 2te ist ein trauriger. Mitte April starb meiner Frau ihre Tante in Hamburg8; mir – meine gute Mutter. Ich habe lange genug gewartet, um Ihnen nicht mit Klagen schwer zu fallen: Sie sehen aber, daß der Himmel fortfährt, mich schwer zu erinnern, wie viel Gutes er mir gegeben. Er hat mir für meine neue Heimat9 die alte10 gleich genommen, denn nun bindet mich weniges mehr oder nichts an meine Vaterstadt. Ich kann Ihnen nicht mit kurzen Worten sagen, was mir meine Mutter war; sie war vielleicht in jeder Hinsicht anders als die Ihrige, und doch – so mannigfaltig ist die Natur in ihrem Guten – war sie mir Alles was Ihnen die Ihre sein kann, und berechnen Sie danach die Größe meines Verlustes. Ich habe die noch Lebende schon betrauert, denn ich wußte es wohl, daß der Tod meines Bruders die arme Frau bald nach sich ziehen würde. Unerwartet kam es mir daher nicht, aber so oft mich die leiseste Beziehung an sie erinnert, so bricht mir ein großer Schmerz wie eine Wunde weit auf, denn über Alles was uns Menschen Gott Gutes und Liebes gab geht doch eine Mutter, die das war, was Ihr Name sagen will, und deren grundlegendem Beispiel und Muster wir Alles danken, was wir von Charakter und Gemüth in uns haben. An mir ist keine gute Faser, was dieß beides angeht, die ich nicht von ihr hätte.

Sie begreifen, daß mir es nach all diesem um so mehr Noth thut, am Quell neues Lebensmuthes zu trinken, denn ich bin dadurch sehr herabgestimmt, zumal da meine Gesundheit immer unbefestigt bleibt. Sie berühren Einen Punct, der mir viel zu denken giebt, in dieser Beziehung. Ich fühle es, daß ich auf die Länge nicht zum Docenten, und nicht an diesen Ort hier tauge! Aber doch ist meine Lage nicht so, daß ich das kann. Sie brauchen also das Schlimme nicht von meiner Reise zu fürchten, daß ich damit der Universitätswirksamkeit entsage. Ich würde an dieser neuen Freude gewinnen, wenn ich irgendwo mit Beseler und Ihnen zusammentreffen könnte. Alles andere kann ich entbehren, wenn ich, auch nur Einen Gleichstrebenden neben mir habe. Ohne diesen weiß ich wenigstens in sonst üblen Verhältnissen gar nicht zu bestehen. Ich glaube daß ich aus diesem Grunde manchen jungen Freund, den ich hatte, überschätzt habe, nur um mir weiß zu machen, daß er meinen Gang billige und theilen werde. Hier hab ich Niemand, über den ich mich selbst nur so täuschen könnte! Sie haben keine Vorstellung von der Prosa, die in diesem Hannover herrscht. Ich denke mir das in Preußen doch ganz anders. Hier geht das Publicum in ein Budentheater eines herumziehenden Packs, die Lücke, Mühlenbruch und sonstige Celebritäten voraus in Eifer der Unterstützung und des Beifalls, und Bach und Gluck würden hier schlecht wegkommen. Es ist kein leidlicher Musiklehrer nur hier! Sie können denken, wie es da um einen Menschen meines Calibers steht. Ich beneide Sie um Ihren Kreis11. Ich denke lange daran, einen ähnlichen um mich zu sammlen, ich kann die Mannschaft aber nicht aufkriegen. – Ritter kommt nun hierher, ich hoffe wenig davon. Kennen Sie Trendelenburg? Er soll tüchtig sein und ist glaub ich ein Freund von Beseler und Dahlmanns12. Er war auch auf der Liste; und ich hätte glaub ich mehr Neigung und Vorutheil für ihn gehabt als für Ritter.

Mit meinem Drama13 hab ich nicht Spaß gehabt. Sie mit Ihrem alterthümlichen Sinn schauen eine Zote? Was sind die Ecclesiengehen, die Thrauungsfeiern, und so viel Anderes im Aristophanes als Zoteneinkleidung? Der innere Sinn und die Ausführung muß das weisen und heiligen. Wissen Sie daß die komische Poesie niemals die Zote und das Grobnatürliche entbehren kann? Ich werde das Stück nicht in aristophanischen, sondern in göthe-hans sachsichen Tone zu halten suchen und ganz populär deutsch bleiben.

Meine Historik ist gedruckt. Lesen Sie sie, schreiben Sie mir darüber, und zeigen Sie sie in den Berliner Jahrbüchern an.

Von Herzen grüße ich Sie mit meiner Frau
Ihr
Gervin.