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Georg Gottfried Gervinus an Karl Hegel, Venedig, 29. April 1839

Ein paar Worte aus Venedig, lieber Freund, zur Erwiederung der Deinen, und zur Danksagung für das Überschickte. Wer wird nun die schönen Portogallen gegessen haben! Leugne es mir nicht, daß sie Dir von der Hand der schönen Marianne1 sehr gut geschmeckt hätten, denn wie Du auf schöne Mädchen aus bist, hab ich zu meinen Erstaunen erfahren müssen! Ich wünsche daß Du in Florenz allen Verführungen entnommen bleibst, und übrigens möchtest Du die schöne alte Stadt recht behaglich genießen! Ein ehrlicher Deutscher ist dabei gut, ein guter Kenner der Verhältnisse noch besser! Ich wünsche also Glück zur Bekanntschaft mit Gaye. Die Italiener fürchte ich werden Dir bald, wie ähnlich in Rom, zur Last sein; wenigstens gings mir so. Indeß hast Du Deine Schuldigkeit gethan. – Was Du in Siena sehen mußt ist 1.) der Dom und sein Inhalt. 2.) S. Domenichino, der Sodoma’s wegen. 3.) S. Francesco. 4.) die Academie galleria, blos wegen älterer Sachen, und 1 sehr schöner Kopf von Dürer2. 5.) Wenn Du Zeit behältst im Innern des Rathhauses, das Du von außen ja betrachten mußt, 1 Madonna von Sodoma einige andere Curiosa. Es läßt sich an einem Tag sehr gut abtun. Während Du in Florenz Deinen Kunsteifer verlierst, hab ich meinen verlorenen hier wieder gefunden! Ach mein lieber Hegel, was ist dieser Tizian für ein Mann! Was Rafael und Michel Angelo in Dir unbefriedigt gelassen haben, das wirst Du bei ihm in reichem Maße finden, und in seinen besten Sachen das dazu, was beide haben und geben. Seine schönsten Sachen sind erst in Spanien, ich möchte gleich hin, so haben mich die hiesigen schönsten entzückt! Was die Deutschen suchen, eine gewisse geistige Realität, Ausdruck, Leben, und einfach natürlichen Ausdruck, ohne Zwang, ohne Übertreibung, das hat er! und was dem Maler so schwer wird, den gemüthlichen, sinnigen, musikalischen Eindruck, den eigentlich zusammenfassenden Effect des Kunstwerks, den macht er mit seinen Farben. Was malen heißt, hab ich hier recht gelernt! und wenn Du es streng nimmst, und aus 2 Werken recht entschieden, aus seinem S. Lorenzo in der Jesuitenkirche und seinem Cristo deposto in der Academie. Diese Sachen, nebst übrigens mehreren anderen, Peter Martyr in S. Giovanni e Paolo, die Himmelfahrt Mariä!!!, die Präsentation in der Academia, 1 fede 1 Dogen und S. Marcus!!! in dem Palazzo ducale (2t piano) und Andere. Denke hier ja nicht unter 14 Tagen weg, bleibe in Padua etwas (auch in Bologna!) – in Padua sieh S. Antonio tüchtig! in einer Capelle Bilder von Avanzi, 1 Art Masaccio, aber wie Alles nach diesen Gegenden hin, in Leben und Ausdruck unendlich viel tiefer, kecker und bedeutender. Hier in Venedig lies einen Guideo3, versäume keine der genannten Kirchen, sie sind alle voll und übervoll.

Und lerne hier was eine nationale Kunst ist, und was eine erst hätte sein können, wenn dieser Staat nicht so finster gewesen wäre, und das aus Kunstsinn gethan hätte, was er nur aus eingeborner Großartigkeit thut. Wenn’s die Alpen nicht ersticken, mache ich meiner Wärme in einem kleinen Aufsatze Luft. – Von den Privatgallerien ja nicht Barbarigo und Manfrin vergessen! Denke einer Parallele zwischen Titian und Göthe nach. Er ist der einzige Maler der wie dieser vor jedem vor jedem Gegenstande Styl, Ton, Manier, und Stimmung änderte, der sich in Gegensätzen, in recht grellen absichtlich gefiel! Der ganz vom Stoff frei war, und der sich absichtlich damit abgab, jeden Gegenstand 2–3–4–10 mal zu machen!

Vergleiche in palazzo Manfrin den dortigen Cristo deposto mit Rafaels, Du wirst auch den todten Körper lebend nennen gegen Rafaels. Vergleiche seinen Johannes den Täufer in der Academie mit Rafaels. Sein S. Marcus (s. oben) wird Dir vielleicht alle Michelanglischen Propheten und Urmenschen todtschlagen. Denke auch einer Vergleichung selbiges mit Ariost, seinem Herzensfreund nach, und schau Dir dessen Portrait von ihm in palazzo Manfrin, an, recht tüchtig. Ich nehme es gleich lieber als den Gegenspieler. Aber ich will Dir nicht zu viel sagen, dann bleibt die Erfüllung gewöhnlich hinter der Erwartung.

Übrigens ist die ganze Schule voll Wunder! Die sind so weltlich, und alle ihre Heiligenbilder müssen dem Vaterlande dienen. Die patriotischen Allegorienbilder wiederholen sich hier so oft wie in Rom und Florenz die Heiligenbilder, aber man hat dann doch was dabei zu denken und zu empfinden. – Mein Lieblingsbild von Titian, obiger todter Christus in der Academie hat er nicht fertig gemacht, sondern der junge Polena4 – er hat es im 98 ten Jahre gemacht. Stelle Dich recht weit davon, seine letzte Manier, (so nennet man das, wozu ihn die zitternde Hand nöthigte, in groben Massen zu färben) ist auf die Ferne berechnet. Zugleich darfst Du auf jedes einzelne in Gegenständen und Tönen etc. bei ihm merken. Es ist Alles voll Plan und Weisheit. Wenn Du siehst, was er aus Nacht und Feuerstücken im Lorenzo gemacht hat (und er machte mehreres dieser Art noch so trefflicheres, was nicht hier ist) so wirst Du fragen, ob eigentlich der Brand im Borgo, wo man gar nicht weiß wo die Dinge ihr Licht her kriegen, gemalt sei! Kurz, Du hast ein neues Subject, wegen das Du zu Gunsten Raphaels mit mir zanken kannst. – Ich übrigens nehme die schönsten Eindrücke zum Schluß aus Italien mit! – Wir müssen leider über Innsbruck reisen. Nächster Tage gehen wir ab. Bis Anfang Juni nach Gastein. Später von Gebrüder Zöppritz nach Heidenheim in Würtemberg. – Wenn Du Boissereè’s sehen solltest, sag es hätte uns leid gethan sie nicht mehr zu sehen hier. Bei Oexle ließ ich einen Brief für sie zurück. –

Dein Gervin.

P. S. Hier wohnst Du in der Luna. Tisch zu florin 1. 12. Logis zu 36–48 Groschen. Trattorien sind hier sehr schlecht und Privatwohnung noch schlechter, und rar dazu.