XML PDF

Karl Hegel an Georg Gottfried Gervinus, Berlin, 11. Januar 1840

Liebster Gervin!

Ja wohl, hast Du mich lange auf Deinen Brief1 warten lassen und ich fürchtete schon, meine Schulmeisterei werde Dich nicht weniger verdrießen als mich, und Du würdest mich nun ohne Weiteres sitzen lassen in meinem Elend. Mein Brief2 war aber auch zu lamentabel, wie ich mich erinnere, und nach dem unangenehmsten Eindruck der ersten Woche geschrieben. Du hast Recht, wenn Du sagst, daß ich verwöhnt bin. Es schien mir anfangs ärger als ein Frohndienst, daß ich die besten Stunden nicht mehr wie bisher einem ruhig fortgesetzten Arbeiten, sondern den Schülern widmen sollte. Nach langen Jahren völliger Freiheit, nach dem Genusse Italien’s war der Übergang gar zu schroff, und meine Klage ist mir deßhalb nicht zu verargen. Indessen hat mich die Alles mildernde Zeit nun auch schon an diesen Dienst gewöhnt, und ich bewege mich darin mit derselben Resignation, wie in der heillosen Kälte unseres Klima, die mich an die schönen Tage in Rom oft zurückdenken läßt. Ja, ich komme schon dazu, die ersprießlichsten und gedeihlichsten Seiten an meinem Schulamt herauszuheben und von diesen aus es lieb zu gewinnen. Diese Schuljugend ist frisch und bildsam und nimmt das Gute, das man ihr geben kann, begierig auf; Menschenkenntniß und Menschenbehandlung läßt sich an ihr gewinnen;

NotaBene Weißt Du auch, daß Du mir schon vor 5 Jahren auf der Stelle des Philosophenweges über Neuenheim mir sagtest, hier wolltest Du Dir ein Haus bauen3. Damals war’s uns beiden nur eine Chimäre. Nicht alle glücklichen Träume gehen so in Erfüllung. Glücklich, wenn sie so werden! Die Charaktere zeigen sich in ihren Anfängen, der Geist der Zeit in seinen Enden und Ausgangspunkten; denn was sich bis in die ersten Vorstellungen und Abstractionen der Jugend verläuft, das muß doch ein sehr Allgemeines und und Herrschendes in der Zeit sein. Auf sehr überraschende Zeichen dieser Art bin ich schon gestoßen, und diese waren mir bisher das Interessanteste an meinem Beruf. Es wird dann bis zum Augenschein klar, wie der Geist der Zeit sich forttreibt und Neues bringen muß; wenn man sieht wie die Jugend das schon als überlieferte Grundlagen erhält, was für uns erst Resultat der Bildung geworden ist. Hielten nur dieser Geist der Unabhängigkeit, diese Ideale der Tugend und des Guten, dieser Abscheu vor Niederträchtigkeit und Heuchelei, auch besser Stand gegen die Klippen der Wirklichkeit, in welche auch diese Jugend bald einfahren wird!

Sehr freudig überraschte mich die Nachricht, daß Du Dir an so schönstem Punkt, von wo der Blick den Neckar wie den Rhein übersieht, ein Haus bauen willst. Nun oft sah ich seitdem mit Wonne auf diesen Punkt in meinem Heidelberger Bild! Man möchte Dich einen Bevorzugten, einen Glücklichen unter den Sterblichen nennen, wenn man nicht wüßte, daß auch Dein Glück seinen Stachel im Verborgenen trägt. So war schon Deine Nachricht mit dem Vermuth, daß Du Dein Haus auf die Erbärmlichkeit unsrer Zustände baust. Ich habe dafür nur den Wunsch, daß Dein Haus und Dein Glück darin fester stehen möge als dieser sein Grund – wohl ein leerer Wunsch! Möge nur auch der nicht leer sein, daß Dir ein bessers Glück darin beschieden werde, als Rousseau auf seiner Insel Saint-Pierre! Dafür scheint mir die Resignation und der Quietismus zu liegen, von denen Du schreibst. Mit dem Quietismus weiß ich wohl, ist es nur Dein halber Ernst, nämlich in so weit, als Du gern wirst in Deinem Haus ruhig bleiben wollen. Zur Resignation haben Dich Deine Erfahrungen hinlänglich gebracht, und doch juckt’s – Dich in Deinen politischen Hühneraugen? So ist einmal die menschliche Natur, die Hoffnung läßt sie sich nicht abschneiden, wenn man auch hundert Mal sich selbst gesagt hat, daß nichts hoffen und nichts wünschen, Weisheit sei. Ich kann nur sagen: Mir geht’s auch so.

Auf Deinen 4ten Band der Literaturgeschichte bin ich in gespannter Erwartung; außer dem interessanten Inhalt, den er verspricht, erwarte ich auch einen Hauch von Italien, von Neapel von Rom darin, der mir wohl thun wird. Auf das dringende Bedürfniß des Handbuchs bin ich nun selbst bei meinem Unterricht gestoßen. Der Robenstein mit seinem schwachen, unselbständigen Urtheil und mit seiner Behandlung nach Gattungen, wobei die ganzen Leute kläglich in Stücke gerissen werden, ist unleidlich und wird einem besseren gegenüber bald unbrauchbar erscheinen. Das Andere, so weit ich es kenne, sind nur elende Kompilationen.

Meine Recension über Deine Historik kannst Du im Dezemberhefte der Berliner Jahrbücher finden, und ich bin begierig, was Du darauf sagen wirst. Ich wollte darin hauptsächlich die Philosophie mit der Geschichte auseinandersetzen, und rühmend anerkennen, daß Du der Geschichte eine gedankenvolle Behandlung aus ihr selbst vindicirst, da die Philosophie manchmal anders zu meinen scheint, als sei dies nur aus ihr möglich.4 Vielleicht haben ihr die Historiker unsrer Tage dazu nur allzusehr die Veranlassung gegeben. Den Punkt mit der Lyrik bin ich insoweit übergangen, als die Erörterung desselben nicht nöthig war. Deine Ansichten darüber kenne ich ja, und wenn Du sie auch sehr schön historisch ausführst, wie ich erwarte, so wirst Du es dem Ästhetiker und mir doch nicht nehmen, die die Lyrik als ein Ganzes zu denken. Du wirst sie zerstückeln, den beiden andren Gattungen als Anfang und Ende hinzufügen, wirst Dich auf Aristoteles berufen usw. Aber auch nach meiner Vorstellung ist es ja natürlich, daß eine Mittel- und Übergangsgattung von den beiden Seiten, welche sie verbindet, eben da, wo sie verbindet, den Charakter annimmt. Bist Du aber Deiner Sache sicher, wenn Du die Lyrik, da, wo sie ihren eigentlichen Kern und Standpunkt und Selbständigkeit gewinnt, der Musik zuwirfst? Auf Aristoteles Poëtik, wenn sie auch weniger übel redigirt und unvollständig wäre, würde ich mich in Bezug auf die Lyrik darum nicht berufen, weil dem Gründer Principien der Dichtkunst natürlich zuerst und darum zu thun sein mußten, die Hauptgattungen zu scheiden, und solche, von denen sich wesentliche und entgegengesetzte und in die Augen springende Merkmale angeben ließen, wie das Auge zuerst die äußerlichen Punkte des Gegenstandes mißt, den es übersehen will. –

Um noch Etwas von meinen Arbeiten zu sagen, so bin ich seit 4 Monaten mit der Bearbeitung von meines Vaters Philosophie der Geschichte aus seinen Heften, zu einer 2ten Ausgabe derselben, beschäftigt. Es wird ein ganz neues, und wie ich hoffe, viel besseres Buch werden, als in der ersten Ausgabe. Im nächsten Monat werde ich damit fertig5; dann geht’s an die Florentina. Zu jener Arbeit nöthigte mich die Pflicht; und der Genuß, den sie mir gewährt, macht sie mir lieb.

Grüße mir Deine liebe Frau recht herzlich, und schreibe mir was von ihr. Grüße auch Ida; ich weiß kaum, ob sie Braut oder verheiratet ist. Ich möchte was Näheres von ihrem Mann wissen, wodurch er sie verdient hat. Grüße auch Schlosser und versichere ihm meine treue Anhänglichkeit und schreibe dann bald Deinem Getreuesten

Carl Hegel