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Karl Rosenkranz an Karl Hegel, Königsberg in Preußen, 23. Januar 1840

Mein verehrtester Herr Doctor,

Gewiß ist es das eigene Bedürfniß meines Herzens, Ihnen von dem Stand der Sache so oft, als möglich Nachricht zu geben. Es gilt ja das Leben Ihres Vaters! Wie gern wünschte ich mir, Ihnen wöchentlich vorlesen zu können, was gearbeitet ist. Aber es ist immer mein Schicksal gewesen, auf solchen Genuß verzichten zu müssen und für die Förderung der Arbeit mag das auch das Beste sein. Die Sendung der Eleusis kam recht à propos, so wie eine andere vom Diakonus Dr. Binder in Heidenheim, an den ich mich gewandt hatte, mir vom alten Pfarrer Fink in Hohenmemmingen, Hegels besten Cameraden im Stift, Nachricht zu geben. Diesen Wink und manchen andern verdanke ich einer Correspondenz mit Strauß. Sie ahnen nicht, wie speciell ich jetzt für die Stiftszeit instruirt bin.

Die Sache steht nun so. Es sind bis jetzt 92 enge Folioseiten, etwa 9 Druckbogen, geschrieben, welche bis auf den Übergang in die Schweiz2 reichen.

Mein Plan ist folgender. Bis zum Jahr 1800 hin wird Ein Band von etwa 25 Druckbogen, voll von den interessantesten Mittheilungen fertig. Ich arbeite wie ein Besessener, aber bei meinen vielen Amtsabhaltungen und der Rücksicht auf meine Augen schaffe ich nicht so viel wie sonst. Vielleicht wird’s um so gediegener.

Der zweite Band soll dann Hegels Leben in Jena etc. Nürnberg etc. Berlin umfassen. Wie stark derselbe ausfallen wird, kann ich jetzt wirklich noch nicht übersehen.

Auf alle Fälle will ich mich anstrengen, den ersten Band bis zum April zu vollenden, denn Sie haben ganz Recht, daß Hegel uns viel Erfrischendes in der jetzigen Schwüle bringen wird. Ich kann mir denken, wie begierig Sie sind, eine Probe zu haben. Allain bevor ich die Schweizer heiklige theologische Periode nicht im Rücken habe, kann ich mein Manuscript nicht missen.

Wegen der Mittheilungen verhalte ich mich so. Alles Kleinere, Fragmentarische, Charakteristische arbeite ich in die Biographie hinein. Aber wie wird es mit den größeren Sachen? Von diesen gebe ich nur eine Beschreibung und Charakteristik mit einzelnen Belegstellen. Es wird sich dann zeigen, ob das Publicum entschiedenes Verlangen darnach trägt, damit man nicht wieder mit dem elenden Gerede kommt: Hegel selbst würde es nicht haben drucken lassen! Es handelt sich hier um die möglichste Aufhellung des Bildungsganges eines so gewaltigen Geistes, wobei die ganze Menschheit interessirt ist und der auf jeder Stufe originell, in jeder Äußerung der ganze Mensch war. Es würden 3 Bände Reliquien zu machen sein:

  • 1) Hegel’s ursprüngliches System. Ganz vollständig und sehr gut geschrieben.
  • 2) Zur Theologie und Politik.
    • I. De limite officiorum humanor[um seposita animorum immortalitate Georg Wilhelm Friedrich Hegel3
    • II. De ecclesiae Wirtembergicae etc. calamitatibus.
    • III. Das Leben Jesu. (etwa 4 – 5 Druckbogen)
    • IV. Der Kampf der Vernunftsreligion mit der positiven Religion. (Hegels populärste Schrift, die er 1796 anfing und noch im September 1800, wo er eine neue von St. Clair durchgesehene Vorrede dazu schrieb, wieder herausgeben wollte).
    • V. 4 Die Auflösung des Deutschen Reichs5 und Deutschlands Zukunft. (Doch erst nach 1806 während der Zeitungsschreiberei geschrieben, wenn gleich die Schrift über den Würtemberger Magistrat 1798, wovon nur noch die Einleitung da ist, schon ähnlich Gedanken enthält. Hegel fürchtete, Deutschland würde Italiens Schicksal haben, in lauter kleine Staaten zerstückelt, die Beute und das Spiel fremder Mächte werden. Er geht daher sehr tief auf die Geschichte von Siena, Modena, Pisa usf. ein, hat auch den Macchiavell viel gelesen. Seine Idee war, Deutschland eine Föderativverfassung für seine Souveränität nach außen zu geben; in Mainz sollte die Centralregierung sein; jeder Fürst sollte geborener General seines Contingents werden; Religion, Sitte, Bildung sollten ganz frei gelassen, überhaupt dafür gesorgt werden, dem Einzelnen einen größeren Spielraum zu schaffen, damit er nicht nur ein Automat wäre usf.
  • 3) Ein Band der interessantesten Aphorismen aus den Zetteln der Berliner Periode, welche nach dem Stoff in gewisse Rubriken zu bringen wären.

Ich habe jetzt gemach eine solche Kenntniß der Papiersorten und Schriftzüge Hegels erlangt, daß es mir dadurch möglich wird, Vieles zu vereinigen, was desultorisch auseinanderlag.

Sie sehen, in was für ein Labyrinth ich gerathen bin, aber es ist eine Wollust, ein solches Chaos zu ordnen. Die Arbeit ist zwar nicht klein, aber süß. Ich muß übrigens mich nach vielen Seiten hin oft weit zurückgraben, um das rechte Verständniß zu finden. Hätte ich von allen diesen Schätzen eine Ahnung gehabt, so gestehe ich, die Mühe von vorigem Winter nicht auf die Propädeutik6 gewandt zu haben. Aber ich hielt sie ja für den einzigen Rest!

Wenn es nur möglich wäre, was Sie einmal einer Reise wegen andeuteten, daß das Ministerium sich der Sache annähme und mir nur ein paar Jahre oder doch für dies Jahr eine Remuneration geben wollte, damit ich ungestört mich diesem großen Werk widmen könnte. Seit acht Jahren habe ich niemals auch nur einen Pfennig außerordentlicher Unterstützung genossen, während Andere, die wahrhaftig nicht mehr für die Universität thun, zum Reisen 3 – 400 Thaler erhalten haben. Das Hofiren ist nicht meine Sache. Daran liegt es und ich weiß überhaupt nicht, ob man nicht einen Menschen, der irgend einen mittelaltrigen Codex wieder ediren will, jetzt unendlich höher schätzt und mehr unterstützt, als einen Philosophen, der das Leben eines Philosophen schreibt! So etwas sollte Nationalsache sein. Aber es gibt nur Hofhistoriographen! So viel weiß ich, daß, wenn der erste Band von Hegel’s Leben heraus ist, der eine ganz neue Welt aufhüllt, das Interesse lebhaft genug werden wird, oder der Blödsinn, die Aphilosophie, die servile Afterdenkerei, die christianisirende Heuchelei, die katholisirende Kirchlichkeit, die Russomanie, die stupide Historicität, die Vernunftcastration müßten denn uns schon ganz verdummt haben.

Neuere Kritik an Straußen‘s Dogmatik wird im Stillen ein kleines Opus. Man muß Strauß gegen die pfäffische  Bornirtheit halten und schätzen, aber im Speculalativen scheint er mir viel Blößen zu geben. Ich kann mich nicht überzeugen, daß nach Hegel die Persönlichkeit Gottes nur als die menschliche gedacht werden müsse. – Das Schreiben an’s Ministerium wegen der Denunciation der Katholiken finde ich nicht.

Mit dem herzlichsten Gruß an Ihre verehrte Mutter und an Emanuel und Hotho’s
Ihr getreu ergebener
Karl Rosenkranz.

P. S. Daß der Druck der Biographie (wegen der vielen Namen) hier veranstaltet würde, ist wohl nicht zu denken.

Hegel hat eine republikanische Periode durchgemacht. Ich suche ihre Darstellung, so wie die seiner rationalistischen 7 immer mit solchen Cautelen zu umgeben, daß die Zähne der Censur nirgends was zu halten finden sollen, denn gerade um diese Manifestationen wär‘ es Jammerschade. Traurig genug, daß man solche Diplomatie üben muß.

Wegen Duncker gibt’s am Ende Noth, daß es 50 – 60 Druckbogen vom Leben setzt. Aber so wichtige Dinge kann man doch nicht von Buchhändlerlaunen abhängen lassen. – Ich lasse übrigens Hegel so viel möglich sich selbst darstellen und enthalte mich aller erklärenden Hypothesenmacherei. – Daß ich nicht Verfasser des Briefs Friedrich Wilhelms IV. aus Königsberg bin, werden Sie wohl schon anderweit erfahren haben.