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Georg Gottfried Gervinus an Karl Hegel, Heidelberg, 6. Juni 1840

Lieber Erich.

Wir wollen uns nicht erzürnen über unsere Streitigkeiten, denn Du erinnerst Dich noch aus Rom, wie leicht das neuerdings unter uns der Fall war, während wir früherhin auch in diesem Puncte weiter waren, uns ruhig zu hören. Nur muß ich Dir in meiner Schwäche wiederholen, daß Deine Einreden nicht gelten. Wie sollte es zu bezweiflen sein, daß die Alten Gesang und Spiel eines lyrischen Gedichts und eines Schauspiels für das Wesentliche gehalten hätten! Ich bezweifle sogar nicht, daß blos deßhalb so wenige Dramen übrig sind und lyrische Gedichte eigentlich gar keine außer Pindars (denn die Gnomen und dergleichen sind keine), wie eben das Aufschreiben sogar sehr selten gewesen sein mag und nur bei den Stücken des Äschyle1 und als nahe lag, deren Stücke nach ihrem Tod noch wiederholt wurden. Wie sollte übrigens das Aufschreiben dieser Stücke Unnatur heißen, da ja auch Musik aufgeschrieben wird, bei der Du doch die Aus und Aufführung für wesentlich wirst gelten lassen? Wenn Du nicht auch da sagst, es sei gleichgültig ob man 1 Musikstück wie ein Drama sich innerlich aufgeführt dächte oder äußerlich es sähe: denn dieser falsus ist einem Philosophen natürlich, der überall an Abstraction gewöhnt ist; dem Publicum aber, für das die Poesie da ist, wirst Du das nicht einrechen. In Deinem Sinne ist das Wesentliche freilich, daß ein Musiker und Dichter die Sachen im Kopf hat, so wie Lessings Raphael2 ohne Hände ein Maler sein soll3 – aber der Poet und Maler ist nur von Sinnlichkeits-Gründen, und ihre Gattung und Künste nehmen ihre Regeler von den gegebenen Bedingungen des Vortrags so gut, wie von den Gesetzen des menschlichen Geistes; und Göthe hat das sehr gut gezückt und hat Drama und Epos nur so von außen her geschieden; und hat sich Shakespeare gegenüber gefühlt kein Tragiker zu sein, was doch dergleichen von dem Drama wunderlich gesagt wäre, wenn er nicht gefühlt hatte, in so seine Stücke keine Bühnenstücke im strengen Verstande, Shakespeares dagegen nur und nichts anderes als Bühnenstücke sind. Alles was Du von seltensten Schauspielen und so weit sagst, wiederlegt sich aus den gleichen Verhältnissen der Musik – die Spieler sind so schlecht weil ihre Kunst nicht mehr die alte Bedeutung hat. Rom’s Beispiel würdest Du sonst nicht im Ernst citiren. Seine ganze Poesie ist verknüpft und nachgeahmt. Horaz kann gar nicht ziehen und ist ein Didaktiker mehr als ein Lyriker. Ich soll recht haben, wenn ich Dir beweise, daß bei der Griechischen Lyrik die Musik Haupt- sache war wie bei uns die Musik der Oper? Wisse also, daß ich dann Recht habe. Lies nur die Frösche, den Streit über die Chöre, der ganze Streit ist gar nicht zu verstehen, weil die Musik verloren! Der bessere Beweis für mich sind die natürlichen Verhältnisse bei uns im Volksgesang noch heute, wo die Worte verstümmelt, vergessen, verwechselt werden, aber die Musik bleibt! Doch schon wieder Abhandlungen!!

Über die Historiker hab ichs kürzer und deutlicher! Ich würde Thukydides keinen Chronisten und Machiavell keine Pragmatiker nennen?? Die entschiedensten und jeden nur den größten! und der die Tinctur des Genies seiner Gattung hinzugibt! Keine Chronik ist so chronistisch wie Thukydides’ und kein Memoirist so pragmatisch wie Machiavell! Nur daß beide das Banausische verdecken. Schlosser ist so entschieden Pragmatiker in neuester Zeit, als er früher Chronist war; so sehr, daß er selbst bis zu einen Grade neuerdings die menschliche Willkür ans Ruder stellte, wie nur irgend ein Pragmatiker thun kann;und so kann man sich gar kein reines historisches Werk denken ohne diese beiden Seiten und Gattungen, grade wie in der Poesie – und so, wie ein ächtes Epos dramatisches Element hat, und Drama episches, so wird auch die ächteste Geschichtsschreibung an beiden paticipiren können und müssen. Wenn Thukydides noch ein bisschen dramatischer wäre, wie z. B. einige wohlthuende Stellen in Xenophon sind, und wenn Machiavell chronicalischer, d. h. factenreicher, so wären Beide noch viel besser als sie sind.

Daß Du für Deine Florentiner doch etwas Zeit übrig behältst, freut mich und ich wünsche nur daß Du über ihnen nicht die Schule, und über dieser nicht jene versäumen mußt. Ich wollte sehr daß ihre Ausarbeitung sich Dir nicht gar zu lang hinausschöbe, die erste Wärme thut gar viel, das sehe ich bei meinem Literarischen Werke sehr, das sich zu lang hinaus gezögert hat. Der 4te Band4 läßt deßhalb so lange warten, weil I. und5 2. erst kommt; oder beide vielmehr zusammen. Ich denke Ende Juni. Band 5 wird dann wohl schnell folgen. […] 6

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So weit hatte ich vor einiger Zeit geschrieben, als ich erst gestört, dann unwohl ward und ein Paar Tage das Bett hütete. Heute, am 6 Juni erhalte ich Deinen neuesten Brief7 und Mahnung und weile zu vollenden, obwohl ich noch reconvalescire von einer meiner alten Erkältungen, deren Du Dich noch von Dahlmanns Besuch her erinnerst. Ich beschränke mich daher auf die Antwort.

Ich muß die Biographie Lessings für jetzt zurückweisen. Ende Juni bin ich erst mit dem Manuscript für Band 4 fertig und schreibe dann in einem Zuge weg Band 5 und das Handbuch. Dieß läßt mich vorerst an nichts denken. Findet die Vossische Buchhandlung einen Andern, gut; wo nicht, so läßt sich vielleicht später noch einmal davon reden. Die Sache wäre mir wohl leicht, obwohl man so was nicht gern zweimal durchspricht. Ich bin begierig wie Dir das zusagt was im Band 4 kommt, der nun Klopstock, Wieland, Lessing, Herders Ästhetica und Göthes Jugend umfaßt. – (In all den Sachen über Heidelberg, Protestanten und Katholiken hab ich keine Hand! Eben lese ich obige Zeilen einmal durch und finde, daß sich indeß manches geändert hat. Vangerow kommt an Thibauts Stelle – und seit Altenstein todt ist, wird nun wohl Schulz8 nicht mehr so schalten wie sonst?)

Euer König stirbt nur etwas zu früh. Soll nicht Aberglaube geholfen haben, ihn in diesem Jahre zu tödten? ich wills Dir gestehen, daß ich einen Hirtenbrief an den neuen König oder vielmehr an die Nation unter dem neuen Könige vorhatte, der weder an Ganz9 noch an Mirabeau10 erinnern sollte. Aber nun bin ich nicht vorbereitet, und das wollen wir doch festhalten, nichts ohne Einsicht und verständige Überlegung zu thun. Zudem, so stirbt euer König vielleicht dem guten Geschick viel gelegener, als meinem Ehrgeize (denn warum sollte der bei dem Plan zu einem solchen Briefe nicht mitspielen?). Die Dinge in Dänemark passen so sehr auf eure Verhältnisse, daß ich wünsche die Preußen möchten sich ein Beispiel nehmen, und für diesen Fall wird mir keine Bewegung und kein Ernst bei euch zu preußisch sein. Du sagst Niemand was von diesem Projecte das vielleicht sonst noch einmal in andrer Gestalt eine andere Gelegenheit rasch bei dem Kopfe ergreift, ehe ihr kahler Hinterschädel vorbeigleitet. Sie wäre jetzt doppelt günstig gewesen, bei der Dänischen Bewegung und gebe Gott, daß sie ein anderer faßt, so soll nichts bei Gott nichts kosten meinen Ehrgeiz auszulachen, der sich dann auch zufrieden geben wird.

Deinen Sonntag denke ich mir nun wie Machiavelli’s 4 Stunden in seiner Villa, wo er über den Alten saß. Fördere ja die Arbeit so viel als möglich. Dönniges grüße schön, ich habe seinen 2ten Band erhalten, und hoffe daß er mir nächstens antwortet, denn die Reihe ist an ihm. Es freut mich daß ihr euch kennt und gut stellt. Mit Beseler rechte nicht, Du weißt er predigt wohl gerne, wer weiß ob er auch nicht mit dem Berlinern was andres meint. Mach Du ihn erst zum Berliner, und es wird besser mit ihm werden, was sein Schelten über das Berlinern angeht.11

Victorie grüßt schönstens. Bei Köster waren wir neulich auch einmal. Mit Webers lesen wir fast alle Woche 1 mal. (Immer kann ich nicht sagen, daß mir das Haus gefällt. Die Alte verdrießt mich und macht den jungen Leuten das Leben sauer, so daß eine Trennung bevorsteht. Ida ist nicht unnatürlich und überspannt, aber sie gesteht es doch quasi selbst, daß sie beides verständig überwunden habe und sich wohl denken könnte z. B. daß sie einmal hätte katholisch oder mystisch werden können: und sie geht doch sehr gern und am liebsten mit überspannten Personen um, z. B. mit Frau Thibaut und Helena Abegg.)12

Einen eigentlich herzerquickenden Umgang haben wir doch immer nur an Schlosser, der sich etwas in meine Frau zu verlieben anfängt und dadurch näher rückt.

Addio von Herzen
Dein
Gervin.