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Karl Rosenkranz an Karl Hegel, Königsberg in Preußen, 20. Juni 1840

Seit acht Tagen, theuerster Herr Doctor, darf ich endlich wieder etwas lesen und schreiben und komme, da ich unaufhörlich über Hegel brüte, schon wieder mit allerhand angezogen, fasse mich jedoch der Augen halber kurz.

  1. Ich muß nothwendig auf Hegel’s Briefe auch in den Vermischten Schriften Rücksicht nehmen. Hier fehlen von den schon gedruckten die Briefe an Knebel. – Von den ungedruckten die an Schelling und andere, die ich besitze und mit Discretion benutzen werde, an Herrn von Yxküll, wozu leicht noch andere kommen dürften, wenn ich etwa eine öffentliche Aufforderung erließe, mich für ein so wichtiges Werk von allen Ecken und Enden her mit Beiträgen zu unterstützen. Wie wäre es nun, wenn mir zugestanden würde, jene Briefe an Ort und Stelle ihrer historischen Genesis der Biographie einverleiben zu dürfen, welche dadurch rechte Localfarbe erhielte? Es würden dadurch den Vermischten Schriften etwa 70 Seiten entzogen. Dafür müßten, nach meiner unmaßgeblichen Meinung Hegel’s noch ungedruckte 2 Lateinische Dissertationen vor der de Orbitis planetarum2 – inserirt werden. Auch könnte die Anordnung der Vermischten Schriften vielleicht noch verbessert werden, wozu ich bei einer zweiten Auflage gern Rath ertheilen würde. – Hierüber bitte ich dringend um Bescheid. Mir scheint meine Ansicht ganz unverwerflich.
  2. Über das stammthümliche Herkommen von Hegel’s Familie, das Todesjahr seines Vaters (wo möglich Todestag 1799?) und seine Schwester erbitte ich mir gelegentlich einige Personalnotizen. –

Die Erläuterungen zur Religionslehre, welche Sie mir mitsandten, sind meist moralisierend und nicht so wichtig, um sie jetzt zu einer Änderung oder Erweiterung zu benutzen. Bei einer zweiten Ausgabe mag dies geschehen. –

Ich habe mir einen netten Kasten mit einer messingnen Handhabe gekauft, den ich bei etwaiger Feuersnoth sogleich forttragen kann. Darin habe ich Hegel’s Papiere verschlossen und zwar habe ich um jedes Manuscript einen besonderen Pappendeckel gelegt und eine Inschrift darauf gemacht, wodurch Alles gleich ein ganz anderes Ansehen hat, was Ihre Frau Mutter sehr erfreuen würde. –

Ich schwanke jetzt nicht mehr, Hegel’s Leben nach folgender Eintheilung zu behandeln.

I.
Lehrjahre.
StuttgartTübingenSchweiz etc.

II.
Wanderjahre.
JenaBambergNürnbergHeidelberg

III.
Meisterjahre.
Berlin. –

Ich habe meinem vorigen Brief, den ich dictiren mußte3, einen älteren beigeschlossen, in welchem die Worte vorkommen, daß ich „formell in der Entwicklung der nun gekehrte Hegel sei.“ Es ist mir eingefallen, daß Sie dies nicht recht verstehen möchten. Ich will damit nur sagen, daß ich von dem subjectivsten, schönseeligsten, sentimentalsten und dann wieder rohesten, leidenschaftlichsten, Höllenbreughelischen Leben mich allmälig zu einer gewissen Haltung aufgekämpft habe, während Hegel immer in gediegener Continuität sich entfaltet und immer der Sache gelebt hat. –

Herr Duncker hat mir die Propädeutik4 bis inclusive Bogen 15 zugesandt und ich bin, einige Interpunctionsversehen und einige Druckfehler zb z. B. oben statt eben ausgenommen, ganz zufrieden. Da Sie es nicht wünschen, daß ich an ihn mich wende, sondern an Sie, so bin ich nun also frei, Sie zu bitten, die 200 rtl Reichstaler im Lauf des Juli an mich zahlen zu lassen, entweder an Graefe und Unzer durch Duncker oder an mich, wie Sie es für besser halten. Ich muß das Geld für Bücher an Graefe und Unzer zahlen und habe bis Ende Juli als Termin gesetzt. –

Hierbei fällt mir ein, wegen eines Punctes gegen Sie mit der Sprache heraus zu gehen, dessenthalben Sie und Andere aus mir gewiß oft nicht recht klug werden können. Dieser Punct betrifft die Veränderungen, denen ich Hegels System nach seiner eigenen immanenten Nothwendigkeit ausgesetzt glaube. In den Kritischen Erläuterungen sind einige Andeutungen hier von. Ich kann daran, ohne sehr weitläufig zu werden, nur soviel sagen: mein Streben geht darauf, dem System 1) die größte Übereinstimmung mit sich selbst auch im Realen; 2) die größte Ausführlichkeit zu geben. Ich gehe später darauf aus:

Die Lehre vom Maaß auszuführen;

Die Metaphysik des Schönen, insbesondere die Lehre vom Häßlichen zu entwickeln;

 endlich eine speculative Theologie zu schreiben.

Zu diesen Arbeiten, die zur Reife noch viele Jahre fordern werden, sammle ich theils den reichsten Apparat, theils arbeite ich viel im Stillen davon. Übrigens kann ich für das eigentlich Speculative mich für keinen Menschen mittheilen, wodurch denn Manches, auch die Empörung über seichte Anfeindung, bei mir in der Schrift oft so schroff wird. – Außerordentlich gespannt bin ich auf die neue Ausgabe der Philosophie der Geschichte5 (über die jetzige hat Weiße in den Brockhausenschen Blättern recht schaafsköpfig und engbrüstig, auch das Herrlichste mißverstanden und berichtet) und den 2ten Theil der Religionsphilosophie. –

Es thut mir Leid, wenn Sie Ihrer Frau Mutter mitgetheilt haben, was für Ansichten ihres persönlichen Verhältnisses zu Hegels Philosophie die Frommen hier in Gang gebracht haben. Ich füge aber keine Sylbe hinzu, um nicht neuen Stoff zu geben. Diese fromme Gesellschaft ist grenzenlos klatschsüchtig, splitterrichterig6, weltlich ehrgeizig, heuchlerisch, klug, sehr klug und so fort.

Warum schreibt denn Hotho nicht, er, von dem ein Brief mir immer ein Manna in meiner Halbrussischen Steppe ist!

Mit herzlichen
Empfehlungen Ihr ergebenster
Karl Rosenkranz.