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Heinrich Wilhelm Stieglitz an Karl Hegel, Venedig, 28. Juni 1840

Kaum ein halbes Stündchen bleibt mir bis zur Abfahrt des Dampfschiffs nach Chioggia – dieß aber will ich benutzen zum Dank für die lieben Zeichen Ihres Andenkens. Ihr Empfohlener fand mich als Rekonvaleszenten – ich konnte daher nur wie jener todtkranke Mohrenkönig aus der Tragbahre, die 2 dirigiren, soweit überhaupt meine Hülfe angemessen seyn konnte für einen so eifrigen 3

Heut nun werd‘ ich einen Tag mit ihm zusammenseyn – es ist mein erster Ausflug, ja Ausgang aus dem Hause nach vierzehntägiger Haft. Es rollte mir anfenclich in die Kehle, recht ernstlich, hatte schon so fest zugeschnürt, daß ich nicht mehr essen, kaum Eiswasser (im Munde zerrinnende Stücke Eis – ein trefflich Mittel! –) es verschlucken konnte mit großem Schwung – Alles das die Sache einer Stunde, indem ich eine Stunde wohl noch wie ein Fisch um Wasser – nicht eigentlich, sondern alles Ernstes geschwommen hatte. Da mag es auch gekommen seyn; bin vielleicht, ohne etwas zu denken, etwas erhitzt hinein gesprungen. Nun, jetzt ists vorüber und gestern hat mir schon ein Stück  Fleisch (– der erste Bissen Fleisch nach vierzehntägigem Casteiendienst – eine Wollust! – der Mensch ist doch halb Wolfsnatur –) trefflich zugesagt.

Faul bin ich nicht gewesen diese Zeit über, besonders die lezten Tage nicht. Mein „Besuch auf Montenegro“4 von den schönsten nachfolgenden Dalmatinerbriefen, wird Ihnen Kunde geben. Nach spätestens vierzehn Tagen geht es nun endlich ab zum Druck. Hab recht con amore dran gewirthschaftet und tüchtige Massen historischen Stoffes aufgearbeitet – versteht sich, in nuce, nicht breit, mehr einwebend und einschmelzend.

Gott segne Ihre Florentiner Studien und Arbeiten!5 Hoffe doch noch in Italien was davon zu sehen. Favarger hat Auftrag mir alsbald es zukommen zu lassen. Da aber kürzlich ein drollig Mißverständniß geschehen ist – schickte mir der urkomische Kauz den Erfolg des Anfangs bei Duncker gestellten Wunsches, die Philosophie der Geschichte, bearbeitet von Gans. „Die hab ich unter den sämmtlichen Werken – die wollt‘ ich nicht – Schaffen Sie mir, Librajo hommo non di Trieste holtanto, ma di tutta l’Italia, die von Dr. Carl Hegel, dem Sohn des Philosophen bearbeitete Geschichte6, Nota Bene etwa solche bereits erschienen und somit retour die Sendung (der unter uns gesagt, doch gar zu viel Gänsefett beigegeben ist – ich hoffe von Ihnen von Seinem Fleische, Geist von seinem Geiste) und von neuem Trostschreiben des zweifelhaft über so baldigen Erfolg Gewünschte.

Wie mir es, oder vielmehr uns mit dem Opp minor des großen Florentiners gegangen, wird der Mohrenkönig, der kranke, hat Alles gethan, was er von seinem Lager aus vermochte – aber wenn sie nicht in Venedig vorhanden sind – was anfangen? – Ich fürchtete das gleich – Es ist unglaublich mit dem hiesigen – Was nicht in Venedig erschienen, das ist in Venedig kaum zu haben – Uebrigens leb‘ auch ich seit einiger Zeit viel in Gemeinschaft mit Dante, dem erlauchten Sänger. Hab‘ eine treffliche Ausgabe der Divina Comedia mir angeschafft von Nicolo Tommaseo drei Bände, Einer erschienen7 – äußerst zweckmäßig und verständig die Anmerkungen; kein Zuviel und über nichts Wesentliches Auskunft versagend.

Ist Manuel im Wittgensteinschen8, so ist er nahe meines Waldeck, vielleicht besucht er Arolsen oder

Allein die Zeit drängt mehr als billig – doch das „mehr als billig“

Adios theurer Hegel! Unwandelbar Ihr getreuer Heinrich Stintzing.