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Karl Hegel an Georg Gottfried Gervinus, Berlin, 9. September 1840

Liebster Gervin!

Vor wenigen Tagen erhielt ich Deine poetische Litteratur-Geschichte der neuen Ausgabe zugesendet und diese Deine Freundlichkeit erwartete, nächst meinem Danke, das lebhafte Verlangen in mir, von Dir und Deiner lieben Frau wieder etwas zu hören. Ich beeile mich also, Dir zu schreiben, um recht bald eine Antwort zu erhalten. Wie selten finde ich ein so gutes Stündchen, um dem Freunde, an den ich oft genug denke, zu sagen, daß ich ihn noch liebe! Zwischen zwei Existenzen getheilt, in Stadt- und Landerfahrung, zwischen Schulstunden und freiem Arbeiten, bleiben mir nur wenige Stunden der Muße übrig, die ich einer nothwendigen Erholung widmen muß. Dieses getheilte Leben, dieses Hin und Her ist mir jetzt durch die Gewohnheit und nöthige Resignation erträglich geworden; auch ist ein leidiger Trost in der Gemeinsamkeit des Geschicks, daß ja die meisten Menschen die Hälfte ihres Lebens verkaufen, um die andre frei zu gestalten; und wie viele verkaufen es ganz, um es gar zu fristen! Deine schöne ungestörte Muße erscheint dagegen recht beneidenswerth! und doch, dürfte sie nur der mit Recht beneiden, der da gewiß wäre, sie mit eben so viel Nutzen anzuwenden. Ich habe Deine Litteraturgeschichte gleich in die Hand genommen und mit erneutem Vergnügen die Abschnitte über Wolfram von Eschenbach und Gottfried von Straßburg durchgelesen; wirklich glaube ich nicht, daß man diese Dichter besser charakterisieren könnte als es von Dir geschehen ist. Unvergleichlich ist, wie der Gegensatz dieser Dichtungen mir als ein allgemein menschlicher aufgewiesen wird, und wie Dante zum Parzival, Ariost zum Tristan in ein inneres Verhältniß tritt. Das sind wahre Coups von einem Historiker, Entdeckungen von historischen Gedanken, die nicht wieder verloren gehen können, weil sie Wahrheiten sind. An diesem Stück habe ich keine Veränderung wahrgenommen, wohl aber an der Stellung, die Du dem Nationalepos gegeben hast, beim Weiterlesen werde ich finden, ob Du Neues hineingearbeitet hast; beim Weiterlesen werde ich finden, ob Du Neues hineingearbeitet hast. Und das muß doch wohl sein; verbliebe denn sonst der 4te Theil1, der schon so lange auf sich warten läßt? Oder bist Du doch noch zu dem bewußten Memorandum, wovon Du mir im Letzten schriebst, gekommen? Indessen hat sich bei uns, wie Du aus den Zeitungen erfahren haben wirst, auch ohne Memorandum sehr Vieles zum Besten geändert. Der neue König hat sich unsre Zuneigung zuerst durch schöne Worte und treffliche Gesinnungen, dann durch preiswürdige Handlungen gewonnen. Von jener habt Ihr freilich durch die Zeitungen weniger erfahren, als wir, davon die Vorrede an die Ministerien und Deputationen durch die Zuhörer ganz vorne mitgetheilt wurden. Bestimmte Versprechungen wurden darin zuvor nicht gegeben, es äußerte sich darin aber ein herrlicher Wille und eine treffliche Beurtheilung unsrer Zustände. Darauf folgten schnell und geräuschlos die ersten Handlungen, ich meine nicht die Bekanntmachung eines für das Volk nichts bedeutenden Testaments, aber die Rehabilitierung Arndt’s, die Freilassung mit Anstellungsfähigkeit der verirrten Jugend, die in preußischen Festungen lange schon, zu lange die Übereilung büßte und endlich die Freigebung des Cultus, die Freilassung der Antiunionisten und sectirerischen Lutheranern. So athmet man wieder freier, so kehrt das Zutrauen wieder zurück; ein neuer Lebensimpuls bringt das Triebwerk des Staats, die Minister müssen dem Könige selbst berichten, und ist wenigstens nicht eine bloße Cabinetsregierung mehr. Kreuz als Anmerkungszeichen Ich höre so eben, daß der Justizminister Mühler, auch erst als ein Mann von entschiedenem Charakter bekannt, seine Entlassung begehrt und erhalten hat. Er war in verschiedenen Stücken mit dem König uneins, besonders über die Amnestie, wo er Kategorien eingeführt wissen wollte. Die Wahl des Staatsrath Eichhorn zum Minister des Unterrichts hat ganz allgemeinen Beifall bei allen Parteien gefunden, was wahrhaftig viel sagen will, und die Verwaltung der geistlichen Angelegenheiten wird eine ganz andre Gestalt annehmen, wenn sie von diesem Ministerium getrennt, unter ein selbstständiges Oberconsistorium gestellt werden wird. Der Kamaschendienst und das mechanische Einexerciren beim Militär ist schon deutlich genug abgeschafft worden; ein Offizier sagte mir neulich, der König habe so vortreffliche Instructionen für die Exercitien, gegeben, wie man sie seit Friedrich dem Großen hier nicht gesehen, und wodurch alle Übrigen nur auf den Krieg bezogen würden. – Dennoch leben wir hier in guten Hoffnungen, nicht so sanguinisch zwar, daß man nicht erst das Weitere abwarten wollte, um eine gewisse und zuverlässige Meinung zu gewinnen, – aber der Anfang ist gut. Sehe mir nicht zu schwarz, mein lieber Freund, der Anfang ist gut!

Meine neue Bearbeitung der Philosophie der Geschichte2 wirst Du durch Buchhändler-Gelegenheit erhalten. Den Plan zu meinen florentinischen Arbeiten will ich Dir jetzt im Kurzen mittheilen, um Deinen Rath darüber zu vernehmen. Ich habe nämlich in den drei Wochen der Sommerferien damit begonnen, die innere florentinische Geschichte von ihrem mythischen Ursprung an zu erzählen, und bin damit ins 14te Jahrhundert vorgerückt. Die Sagen habe ich vom historischen Gesichtspunkt beurtheilt und dann die Untersuchung über die früheste Florentinische Verfassung in die Erzählung hineinverwebt. Ein vorangegangenes Studium der Werke Dante’s setzte mich in Stand, in einem besondren Capitel, die Ansicht desselben über die italienischen, insbesondere florentinischen Zustände auseinander zusetzen. Nur finde ich aber, daß dies ein sehr ungleiches Ganzes zu werden verspricht, wenn ich in solcher Weise fortfahre; auch muß ich zu viel von dem Bekannten aus Malespini, Villani usf. aufnehmen, und das Neue, was ich hineinbringe, nimmt sich in solcher Erzählung, ganz fremdartig aus, da ich mit Anführung der Documente untersuchungsweise dabei verfahren muß. So scheint es mir besser nur eine Folge einzelner Abhandlungen zu geben, die ich durch einen wo möglich kurzen historischen Faden mit einander verbinde. Ich beschäftige mich daher jetzt mit der Untersuchung, ob ein Übergang der altrömischen Municipalverfassung in die mittelalterliche Zunftverfassung für Florenz nachzuweisen ist und studiere die antiquarischen Schriften der Florentiner Lami, Borghini etc. und die Documentensammlungen. Wenn ich darüber zu einem sicheren Resultat käme, so wäre das ein nicht unwichtiger Beitrag zur Entscheidung der Frage, ob die römische Minicipalverfassung in den Lombardischen Städten zur Zeit der Langobardenherrschaft bestehen blieb? welche von Savigny und Leo auf entgegengesetzte Weise beantwortet worden. Ich würde dann die verdiente Zunftverfassung nach ihrer ersten Anlage darstellen und betrachten und die innere Florentinische Geschichte nur an ihren Hauptpuncten und Entwicklungsknoten aufnehmen, um den Zustand der Verfassung dabei zu beschreiben und die Entwicklung derselben nachzuweisen, also bei der Einsetzung der Freien, beim Kampf der Schwarzen und der Weißen, bei der Befreiung von der Tyrannei des Duca d’Atene, bei der Revolution der Ciompi, bei dem Übergang zur Herrschaft der Medicen mit den Formen der alten Verfassung. Ich werde in einer besondern Abhandlung die Entwicklungsgeschichte der Verfassung von Florenz mit der der andern italienischen Städte in ihren gegenseitigen Einfluß aufeinander betrachten; ferner in einer andern einen Vergleich der antiken Republiken mit den mittelalterlichen italienischen und deutschen durchführen. Ich werde die florentinische Verfassung weitläufig aus den Statuten, nach den verschiedenen Statutensammlungen beschreiben eine Kritik derselben geben und dann die Urtheile über dieselbe und die allgemeinen politischen Ansichten der bedeutendsten Florentiner beim Übergang in die neue Zeit, Machiavelli, Guicciardini, Gianotti als meinen Beitrag zur Geschichte der Politik zusammenstellen. Für mich haben diese vom Einzelnen ins allgemeine Historische übergehenden Untersuchungen und Betrachtungen den Nutzen, daß sie nicht in der Geschichte überall herumführen, wie ich dann diese Arbeit als eine Handhabe betrachte, an welcher ich das Quellenstudium des Mittelalters ergreife. In dem ich an dieses Studium mit einem bestimmten Zweck gehe, so werde ich mich darin nicht auf freudlose Weise verlieren, das Interesse dabei frisch erhalten, und vielleicht etwas Interessantes zu Tage fördern. Das Schulamt zwar steht mir bei wissenschaftlichen Arbeiten der Art sehr im Wege, indem es mir die größte Hälfte meiner Zeit und meiner Kräfte entzieht, es gibt mir aber andernteils die Ruhe und Gemüthlichkeit, daß mich nichts dränge, diese Arbeit schnell zu vollenden.

Weißt Du, daß ich sehr stark darauf rechne, Dich und Deine liebe Frau im nächsten Winter hier zu sehen? Was für eine große Freude wäre es für mich, wenn Du diesen Plan ausführtest! Du würdest jetzt außer mich noch andre gute Freunde hier antreffen. Dönniges, Papencordt, Schulz haben wir jetzt hier. Letztere sind vor wenigen Wochen hier angekommen. Papencordt zwar will zu Michaeli nach Bonn, nachdem er seine Geschichte des Cola Rienzi vollendet haben wird, aber Schulz läßt sich mit seiner Familie hier nieder, er will dociren; sie lassen Euch herzlich grüßen, ich habe sie unverändert gefunden. Die Kinder waren voller Freude mich wieder zu sehen, und die kleine Anna bat sehr dringend, „die liebe Tante Gervinus“ zu grüßen. Schulzens Absicht war, noch einige Jahr in Rom zu bleiben, er machte aber die Forderungen von 600 Scudi Gehalt und von einer Uniform als Gesandtschaftsarzt, um als Mitglied des preußischen Diplomatischen Corps in Rom zu erscheinen, auf welche Forderungen die Regierung nicht eingehen wollte. Deßhalb hat er Rom schon im vorigen Winter verlassen und sich den Winter über in Neapel aufgehalten. Dönniges läßt jetzt einen Band Kritik zu seiner Geschichte Heinrichs VII mit der Übersetzung des Dino Compagni erscheinen. Die Übersetzung ist nicht besonders und nicht ohne Mißverständnisse. Ich werde sie in den Kritischen Jahrbüchern recensiren. Wir sind die besten Freunde.

Es ist lange davon die Rede, daß die Grimm’s hierher kommen und bei der Bibliothek angestellt werden sollen. Wilken ist schon lange Invalide, ist aber gar nicht gesonnen, Andern Platz zu machen und wird sich entschieden wehren. Die Grimm’s sollen übrigens durch ihre Freunde, besonders Lachmann, wie man sagt, übel bedient werden. Dieser habe ihnen früher abgerathen zu kommen, aus einem nichtigen Grunde, hinter welchem der Eigennutz schlecht versteckt gewesen wäre. Ich weiß nicht, was daran ist. Recht herzliche Grüße an Deine liebe Frau. Ich wünsche sehnlichst zu hören, wie es Euch geht, ob Ihr Euch schon auf dem reizenden Punkt über Neuenheim im eigenen Hause3 niedergelassen habt? Schreibe mir auch viel von Deinen Arbeiten, an denen ich das größte Interesse nehme. Ist Kortüm schon da? Sollst Du auf das akademische Leben durchaus Verzicht gethan haben, oder wollte man Dich nicht? Ich möchte wissen, ob Du bisweilen Verlangen nach einer äußern Thätigkeit trägst. Mir würde eine solche, wie ich jetzt habe, sogar psychisch unentbehrlich sein.

Die Nachricht vom Tode des tüchtigen, wackeren Gaye in Florenz hat mich sehr schmerzlich betroffen.4 Zwar hat er seine Sammlung von Künstlerbriefen eben im Druck vollendet, aber seine Forschungen und sein Talent versprachen die gründlichsten eigenen Arbeiten. Fast ebensosehr hat mich der Tod Ottfried Müllers ergriffen, der auch mitten aus seiner vielversprechenden Laufbahn der Wissenschaft und den Seinigen entrissen wurdt. – Wenn Dahlmann nach Bern geht, so wirst Du ihn wohl in Heidelberg sehen; und ich bitte Dich um Nachricht über ihn und seine Familie. An Beseler habe ich eine lange Zeit nicht geschrieben; unser Briefwechsel ist ins Stocken gerathen und unser Verhältniß bedarf einer gründlichen Erneuerung durch ein persönliches Zusammensein. Wenn man älter wird, scheint es, reichen die allgemeinen Anknüpfungspunkte nicht mehr hin, wenn die besonderen fehlen oder ausgehen. Mit Dir hoffe ich mich jedoch im Allgemeinen und Besondern immer verbunden zu erhalten und verbleibe in

alter Liebe und Freundschaft
Dein Carl Hegel.