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Karl Rosenkranz an Karl Hegel, Königsberg in Preußen, 29. Oktober 1840

Liebster Hegel,

Der junge Wald ist vielleicht unterdessen schon bei Ihnen gewesen, Ihnen zu sagen, wie weit ich bin. Ich habe seit den 14 Tagen, daß er mich besuchte, noch einen großen Schritt vorwärts gethan. Ich habe die Durchsicht der Briefe beendet. Dabei bin ich so verfahren. Die Couvertüren Ihrer Mutter habe ich abgeschnitten und aufgehoben, damit Sie den Revers in Händen behalten, was Sie mir anvertraut haben. Dann aber habe ich die Briefe aufgefaltet, chronologisch geordnet, in Umschläge mit der Nameninschrift und schließlich in Mappen gebracht, so daß man jetzt sehr bequem und einladend Alles vor sich hat. In der vorigen zusammengekrempelten Gestalt hätte ich nichts benutzen können. Indessen sind dadurch Briefe derselben Personen, zb. z. B. Creuzers und Bergers aus verschiedenen Paketen Ihrer Mutter in Eine Lage gekommen. Ferner habe ich von Manchem mehr Briefe gefunden. Manche Briefe aber zb. der des französischen Arztes über Wolfs Tod in Marseille, sind gar nicht an Ihren Vater gerichtet. Endlich sind manche Inschriften der Mutter, meinem Vermuthen nach, falsch zb. Karoline Paulus ist nicht die Frau, sondern die Tochter Paulus?2

Aber so aufschlußreich mir diese Briefsendung gewesen, so habe ich doch 1) den Brief von Hegels Schwester, „der sein Benehmen gegen Freunde und Frauen in äußerlicher Hinsicht“ schildert, und 2) die Briefe Hölderlins in betreff der Frankfurter Epoche, welche durch die Briefe Bettina’s mit der Günderode jetzt allerdings viel deutlicher wird, nicht gefunden. Wenn nicht besondere Gründe der Discretion ihre Mittheilung versagen, so bitte ich – wenigstens abschriftlich – darum.

Ferner möchte ich gern wissen (was ich weder aus den Papieren, noch aus Kapp’s Buch3 oder Paulus habe erfahren können), wie der Vorgänger Hegel’s am Nürnberger Gymnasium geheißen hat, dem er die schöne Rede, welche Sie mir übersandt haben, gehalten hat?

Ferner ob Hegel mit von Hoven, dessen Biographie4 nun auch erschienen ist, Umgang gehabt hat? Die Karoline Paulus erkundigt sich in einem Brief nach seinem Befinden.

Ferner wissen Sie wohl nicht, wem Ihr Vater über die Neuplatonische Philosophie so gelehrt opponirt hat? Es ist über diese Materie so viel geschrieben, daß ich es aus den Lateinischen Schriften Hegels mit Sicherheit herauszubringen wage.

Von dem Philosophischen, was Sie mir mitge- schickt haben, ist die eine Lage, die Ihr Vater selbst Varia überschrieben hat, von den ältesten Schweizer Zeiten an bis zu den Berliner hin. Ich kann jetzt ordentlich schon nach dem Papier und der Handschrift Hegels Jahre und Localitäten unterscheiden. Die Bemerkungen über den Bart bei den Juden, über die öffentlichen Hinrichtungen, die Klageschreiben und das Wir beim Thukydides gehören der Periode des Lebens Jesu u. s. f. an. – Die andere Lage enthält nach meiner Meinung die Philosophie des Geistes, wie sie Hegel in Jena vorgetragen hat und ist voll der interessantesten Bemerkungen zb. über Macchiavell; in der Ausführung von einer ich möchte sagen, genrebildlichen Popularität, namentlich bei der Charakteristik der verschiedenen Stände; scientifisch durch die Auslassung oder immanente Vertheilung der Moral und endlich durch die eigenthümlichen Bilder zb. mit den pattes de velours5 merkwürdig. In der Einleitung ist auch viel Denkwürdiges zb. eine Parallele 1) der Einbildungskraft + und dem freien Willen überhaupt; 2) der Erinnerung + und dem Werkzeug 3) der List mit dem Zeichen.

Aus dem einzigen Brief Stäudlins sehe ich, daß sich unter den Stiftlern damals eine Art Coteriesprache und Coteriewitz gebildet hatte, wofür der Ausdruck eine „Johannität“ war und was unstreitig mit der Lectüre der Hippelschen Schriften zusammenhängt. Stäudlin theilt glücklicher weise Proben mit. Kommen solche auch im Stammbuch vor und würde es nicht zweckmäßig sein, mir eine Liste der im Stammbuch verzeichneten Freunde zu schicken?

Ich habe nun die Ausarbeitung selbst bereits begonnen und stehe eben dabei, Hegel aufs Gymnasium zu bringen. Können Sie mir daher aus seinen Papieren der Gymnasial- und Universitätszeit, namentlich auch (verlassen Sie sich auf meine Discretion, für welche schon meine locale Abgeschnittenheit und geistige Einsamkeit so günstig ist; ich kann wohl Jemand sagen, daß sich dies oder jenes im Nachlaß Merkwürdiges gefunden habe, aber nicht was) das Manuscript über die Würtembergische Verfassung. Wie tief Hegel die letztere gefaßt, wie sehr er sich des wahren Wohls des Volkes angenommen, beweisen im Briefwechsel die 2 Briefe des Professors Michaelis6.

Aus den Jenenser Lectionskatalogen habe ich sehr viel Stoff entnommen. So viel Philosophen sind noch auf keinem Platz seit Athen florente Socrate wieder zusammengewesen. Hegel hat auch + mit Schelling ein philosophisches Disputatorium angekündigt und 1805/6 mathesin puram gelesen – worüber auch Herr Professor Gabler mir geschrie- ben hat, dem ich überhaupt gelegentlich meinen besten Dank für seine interessanten Mittheilungen zu sagen bitte. – Auch Ihnen muß ich für die Philosophie der Geschichte7 herzlich danken, worin so manches neue Herrliche uns gebracht ist.

Meine Arbeit wird nun fröhlich gedeihen. Das Schwerste, die Vorarbeit, liegt hinter mir. Es kommt mir recht à propos, daß Hegel gerade jetzt so viel angegriffen wird, weil ich selbst dadurch wach gehalten werde und meine Arbeit vielleicht, indem sie das ewige Werden Hegels zeigt, indessen er dem Wesen nach immer derselbe ist, am meisten geeignet sein dürfte, eine Menge schiefer, flacher, maliciöser Auffassungen zu entgegnen, – ohne böses Blut zu machen. Haben Sie denn Weber’s8 absolute Construction, Trendelnburgs Untersuchungen9, Reiffs Anfang10, Trentowsky’s Vorstudien11 schon gesehen?

Gegen Steffens, wenn er nun endlich auch Geheimer Rath und ein höchst liebenswürdiger Memoirenschreiber ist, der uns für die Jenenser Epoche noch schönen Stoff liefern kann, habe ich mich doch etwas kehren müssen12. Wird die Redaction der Berliner Jahrbücher meine Kritik bald vom Stapel laufen lassen?

Auch Herrn Professor Michelet schulde ich einen Brief, was er mir aber verzeihen mag, da ich bei meinen vielen Amtsgeschäften mein kränkliches Auge für Hegels Leben schonen muß.

Mit innigstem Gruß an Ihre verehrte Mutter und an Freund Hotho, der zu einer Harpokratischen Statue in Ansehung meiner sich verwandelt hat, und in Aussicht, bald einige Zeilen von Ihnen zu erhalten,

Ihr
treulichergebener
Karl Rosenkranz.

P. S. Wenn nur die Leute erst von der Dummheit ablassen wollten, deswegen, weil man auf Lücken und Widersprüche in der Ausführung eines Systems stößt, oder weil man, was gerade so lehrreich und anziehend ist, die allmälige Entwicklung eines Systems verfolgen kann, das System selbst sogleich für unmöglich zu erklären. – Den ersteren Punct hat Frauenstädt in seinem neuesten Buche13 einigemal gegen Steffens recht gut hervorgehoben, aber in betreff Hegels und Schellings gegen Hegel gekehrt, indem er behauptet, beide hätten dasselbe Princip, was wohl von dem Absoluten als Einheit des Idealen und Realen, aber nicht davon gilt, diese Idealität als absoluten Geist zu fassen.