Du wirst an meiner Treue und Anhänglichkeit, mit der ich Dir in innerster Seite wenig verbunden bleibe, nicht zweifeln, wenn ich Dir auch lange nicht schreibe. Ich wollte immer einen recht ausführlichen langen Brief schreiben und bin darüber zu gar nichts gekommen, wie es gewöhnlich geht. Heute erhalte ich eine Aufforderung von Beseler, eine Einlage an Dich mitzuschicken und ich tue das umso lieber, als er ein Mitschuldiger ist – die Mitschuldigen sind ja Dein Lieblingsstück! Doch davon gleich mehr, nicht von den verhaßten „Mitschuldigen“, aber von Deinem jetzt vollendeten Hauptwerk, von Deinem opus aere perennius wider Willen. Zuvor muß ich von mir selber reden und ausdrücklich hervorheben, was Deinen Scharfsinn in Obigem nicht entgangen sein wird, daß ich jetzt an Rostock’s erhabener Universität Professor der Geschichte und an demselben Ort mit Beseler vereinigt bin.1 Das sind zwei Hauptlebenspuncte für mich und wenn der zweite leider nur von sehr kurzer Dauer ist, so weiß ich ihn darum nur um so mehr zu schätzen und den Genuß davon zu concentrieren. Beseler ist erstaunlich gewachsen am Geiste und wo ich ihn sonst, in Lebensweise und Benehmen, verändert finde, so ist es durch aus nur zu seinem Vortheil. Er hat eine tüchtige Männlichkeit an sich ausgeprägt, liebenswürdig zugleich und entschieden, ja grob, wenn es gilt, Zudringlichkeit und hohle Anmaßung in ihre Schranken zurückzuweisen. Seine Sicherheit und Festigkeit flößt Jedem Zutrauen und Achtung ein; er braucht von keinem Rath und Jedermann sucht ihn bei ihm, fast ist er darum zu sehr sich selbst genug. Er herrscht in den Verhältnissen, in welche er gesetzt ist, ohne daß er es sucht, denn sein Rath ist maßgebend für die Andren; er weiß das wohl, doch macht er es nicht geltend. Ich glaube nicht zu viel zu sagen, wenn ich behaupte, daß er der Erste Mann an hiesiger Universität ist. Gegen seine Frau zeigt er ein äußerst rücksichtsvolles und feines Benehmen; Schicklichkeit und Anstand wird nicht einen Augenblick außer Augen gesetzt, ohne daß irgend ein Zwang der Rücksicht auf die Gegenwart Andrer deßhalb bemerkbar wäre. Seine Frau ist in ihrer weiblichen Sphäre eine ihm ganz ähnliche Natur; dieselbe Ruhe und Sicherheit, liebenswürdig und bewußt, – man kommt ihr nicht leicht nahe. Beide ganz norddeutsche Naturen! Du und Deine Frau, würdet einen entschiednen Gegensatz süddeutscher Art abgeben und Euch darum nur um so besser mit ihnen zusammenfinden: Ich halte mich selbst für einen Mischling und würde mich ungefähr in die Mitte zwischen das schöne Doppel-Paar stellen.
Du kannst Dir vorstellen, daß Beseler sehr stärkend und kräftigend auf mich einwirkt, durch die bloße Anschauung seiner Persönlichkeit. Ob ich ihm etwas bin und sein kann, möchte ich kaum glauben, da er, wie gesagt, Niemanden zu brauchen scheint, und zur Erheiterung des geselligen Verkehrs Andre mehr beitragen als ich. Doch, glaube ich, weiß er, daß schwerlich einer hier am Ort ihn so versteht, und mit eigner Wonne so sehr an seinen höchsten Lebensinteressen, die auch die meinigen sind, Theil nimmt, als ich. Denn es ist hier zwar ein äußerst liebenswürdiger und heiterer Verkehr unter einem Theil der jungen Professoren, welche durch Bildung und Regsamkeit und durch frisches Streben den alten verrosteten Universitätsbestand von bornirten Pedanten ganz über den Haufen geworfen haben, und aber wo man auch dort mit deutsch nationalen Fragen und Interessen anklopft, so klingt nichts bei ihnen an; man ist in einem entsetzlichen Provincialismus verkrustet, der wohl nirgends so arg in Deutschland ist und sich durch die abgeschiedne Lage des Landes wohl erklärt. Man weiß kaum, daß man zu Deutschland gehört, und bei der Frage wegen des Anschlusses an den Zollverein neigt da auch nicht ein Quäntchen, daß der Zollverein ein deutscher ist, wie knauserig man auch die materiellen Interessen gegeneinander abwiegt.
Glaube mir, lieber Gervin, in Preußen geht es vorwärts, durch den König gewiß nicht, aber wider ihn. Wenn Du die politischen Stimmungen mit durchlebt hättest, Du würdest Dich wundern über den augenblicklichen Aufschwung nicht preußischer, sondern deutscher Gesinnung. Mir ist das erst in der hiesigen Stagnation recht zum Bewußtsein gekommen. Ein Collegium über deutsche Geschichte habe ich nicht zu Stande gebracht. Was fragt man auch hier nach Deutschem! Man sagte mir von allen Seiten, Meklenburgische Geschichte würde viel Eifer und Theilname bei der hiesigen Jugend finden; ich will sie aber wahrhaftig in ihrem abgestandnen meklenburgischen Treiben nicht noch mehr befestigen. Ich werde jetzt nur ein Publicum über die Geschichte des Deutschen Kaiserthums bis auf die Reformation zu Stande bringen. Zwei Jahre habe ich mir vorgesetzt, mich den Vorlesungen ganz zu widmen, und hauptsächlich die neue und neuste Geschichte durchzuarbeiten. In den florentinischen2 Studien war ich zu sehr eingehaust, ich muß erst einen weiteren Überblick über das Gebiet der Geschichte gewonnen haben, um jene recht zu machen. Der Gewinn, den ich bis jetzt davon gezogen, ist einiges Verständniß des politischen Lebens des Verfassungswesens. Auf diese Seite der Geschichte werde ich mich besonders legen. Ich hoffe, wir werden darin zusammeintreffen.
Von Deinem Buch, dessen 5ten Theil3 ich mit Dank empfangen habe, will ich nur den Eindruck kurz angeben, den es auf mich macht. Es hat die deutsche poёtische Literatur bis zu ihrem Höhepunkt und zu ihrem Abschluß gebracht und das beginnende Verderben nachgewiesen. Wer nicht ganz blind und taub ist, dem muß es zur hellsten Überzeugung werden, daß auf diesem Gebiet die Kräfte unnütz vergeudet werden. Eine solche Überzeugung, wenn sie durch Dein Buch, wie die Absicht ist, allgemein würde, wäre schon ein unermeßlicher Gewinn und Dein gutes Verdienst. Du stellst zugleich die neue Aufgabe; die Art, wie das geschieht, ist so stürmisch, so bewegend, so ungeduldig, daß sie nothwendig auch einschlagen und einwirken muß auf die strebenden Kräfte unser Nation. Der bleibende Eindruck Deines Werks, nämlich aus seinem 5ten Bande, ist also nicht ein beruhigender, harmonischer, sondern eine drängende … eine Spannung. Es4 erscheint wie eine Vorarbeit für die Zukunft und steht dadurch im rechten Fluß der Historie, die nicht aufhört, ohne anzufangen. Es läßt uns aber in innerer Unbefriedigung, weil nur mit Unruhe und Ungeduld erfüllter worden, und uns das neue Object, worauf wir unsre Kräfte zu concentriren haben, noch fehlt, oder vielmehr noch zu keinem recht klaren Bewußtsein gekommen ist. Wir warten der Dinge, die kommen sollen, und ich glaube diese warten weniger auf einen Reformator, als auf ein großes welterschütterndes Ereigniß.
Unterlasse ja nicht, mir auch Dein Handbuch, wenn es fertig sein wird, zuzuschicken. Ich freue mich sehr auf die summarische Übersicht, auf die zusammengedrängten Resultate dessen, was wir stückweise, im Verlauf der Jahre empfangen und verarbeitet haben. Darf ich Dich auch dringend bitten, Du mögst das nicht zu sehr übereilen?
Der Dränger und Treiber zum Abschluß meines Briefes ist hinter mir. Also nur noch recht herzliche Grüße an Deine liebe Frau, an Victorie, die doch meiner auch noch etwas gedenke?