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Karl Hegel an Georg Gottfried Gervinus, o. O., 10. April 1842

Lieber alter Freund!

Ich habe Dir seit lange nicht geschrieben, weil ich mit Bestimmtheit auf unsre Zusammenkunft und mündliche Mittheilung rechnete. Wie waren wir betroffen, als wir in Jena angelangt2, Dich zu umarmen hoffend, nun erst von Dahlmann’s erfuhren, Du seist krank und könnest nicht kommen! Ich glaubte fast den Zweck meiner Reise verfehlt zu haben, und war ägerlich über Dich, daß Du uns nicht in ein Paar Zeilen benachrichtigt hattest. In der That, ich wäre dann nicht gekommen! – und ich hätte, dann viel verloren. Wir vermißten Dich alle schmerzlich und theilten die Besorgniß für Deinen Gesundheitszustand miteinander; – möchten wir recht bald Beruhigendes darüber hören! – und wir mußten uns zugleich gestehen, daß die Gemeinschaft mit Dir Allen unschätzbaren Gewinn gebracht hätte. So ist der glückliche Moment vorübergegangen und wer weiß, ob er wiederkehrt?

Jetzt hoffe ich auf das Seebad für die Wiederherstellung der Befestigung Deiner Gesundheit und für unser Wiedersehen. Du wirst doch nicht in der unwirthlichen, stürmischen Nordsee baden wollen. Wie einzig wär’s, wenn Du nach Warnemünde kämst, wo Beseler und ich mit Dir in der Nähe zusammenträfen! Das überlege wohl mit Deiner treuen lieben Victorie und fasse gute Entschlüsse.

Deine Abwesenheit hätte auch darin eine glückliche Wirkung geäußert, daß unsre Unterhaltungen gemeinschaftlicher gewesen wären, ich meine, Beseler hätte Dahlmann nicht so stark bloß für sich in Beschlag nehmen dürfen, als er gethan hat. Freilich jetzt hat er kein Auge mehr für Dorotheen’s Schönheit, kein Ohr für ihre Stimme und ihm liegt nichts daran, ob sie mein Herz verwundet.

Was aber hätte ich dem großgesinnten, edlen Vater zu bieten, was ihm der Entsagung auf die geliebte einzige Tochter, die ihm die trüben Sorgen von der Stirne scheucht und die Tage der Trübsal erheitert, werth scheinen könnte? Nie bin ich mir ärmer und unwürdiger erschienen. Aber auch, wenn würdiger, wer möchte, ein solches Opfer jetzt von dem gebeugten Mann verlangen? Diese Betrachtung genügte, um die noch nicht leidenschaftlich gewordenen Empfindungen zu unterdrücken.

Von dem viertägigen Aufenthalt im Dahlmannschen Hause habe ich die Anschauung eines, ich möchte fast sagen, erhabenen männlichen Charakters und eines höchst edlen Familienlebens mit heim genommen. Ich fühle mich sichtlich gestärkt und gehoben und zu meinen besten Entschlüssen mit allem Ernst der Arbeit beginnen, denn im vergangenen Winter bin ich dort, widerstrebend zwar, in einen Strudel der Geselligkeit und in die Gewöhnlichkeit trivialer Unterhaltung und Spiel, in ein sich gehenlassen hineingezogen worden, bei dem ich mich nicht zufrieden fühlte und zu dem ich mich nur aus Gefälligkeit und Dankbarkeit für entgegenkommende Freundschaft bewegen ließ.

Für Beseler ist es darum auch wohlthätig, daß er herauskommt, denn zum Theil fing er an auszuruhen und wurde arbeitsscheu, zum Theil immer mehr in die ledernen Meklenburgischen Geschichten hineingezogen. In Greifswalde hat er den Stachel, sich dort erst seine Stellung machen zu müssen, seinen beneideten Titel zur Geltung zu bringen, sich nach Berlin hinüberzuarbeiten. Was er hier für ein Terrain außerhalb der Universität finden würde, das weiß Gott. Von Savigny’s Gesetzgebung hat man der Zeit noch die schlechteste Erwartung.

Wunderlich, der seit etwa vier Wochen bei seinem Bruder hier sich aufhält, hat mir Manches von Eurem Lebwesen mitgetheilt, so daß ich mich leidlich hineindenken kann. Seine gerade, biedre, wenn auch hier und da etwas barocke Natur hat mir wiederum recht zugesagt und ich verspreche mir von ihm, einen wahren Gewinn für die Rostocker Universität und für mich. Was magst Du jetzt nach Vollendung Deines Handbuchs, welches ich nur eben zu geschickt bekommen habe, um hineinblicken zu können, für Pläne im Koffer herumwerfen? Sind es noch die alten, sind’s neue? Ich hätte Dich eben so gern darüber gehört, als Dir meine eignen vorgetragen. Denn wie wohl ich auch Jahr und Tag hauptsächlich mit Ausarbeitung der Vorlesungen zu thun habe, so ist doch auch hier die Frage, welche Gegenstände darin am ersprießlichsten zu behandeln und auf welche die schriftstellerischen Arbeiten hinzuleiten wären. Vorläufig will ich die florentinischen Studien zu einem Programm benutzen, welches ich zum Antritt meiner Professur3 zu schreiben habe; es soll eine Untersuchung enthalten über den Weg, auf welchem die toscanischen Städte, besonders Florenz, zu freien Republiken wurden. Das wird eine gelehrte und kritische Arbeit werden, die mich ziemlich kalt läßt, da sie nur den äußern Zweck hat, mich in die Innung der Gelehrten einzuführen. Meinen weiteren Arbeiten wünsche ich eine mehr praktische Bedeutung zu geben, wenn ich nur die recht Form und Fassung dazu gefunden hätte!

Unsre Zeit drängt uns immer mehr zur Politik hin; über sie will man sich aus Philosophie und Geschichte belehren, um sich eine feste Überzeugung zu bilden, da es bald für schimpflich gelten wird, in politischen Dingen indifferent zu bleiben. Nach meiner Art und Natur muß ich suchen diesen auf theoretischem Wege beizukommen; ich muß die Philosophie und die Geschichte der Staatswissenschaft zu Hülfe nehmen, um einen eigenen Standpunct zu gewinnen. Im nächsten Semester will ich neuere Geschichte lesen und ein Publikum über Machiavelli, Montesquieu und Rousseau; ich will die politischen Principien faßlich und kurz zusammenstellen und zeigen, wie sie mit den Zuständen ihrer Zeit im nothwendigen innern Zusammenhange stehen, weßhalb sie eine so unermeßliche Wirkung hervorgebracht haben; ich will dann die bleibenden Resultate, die wenigen Wahrheiten mit Nachdruck hervorheben, als welche immer mehr Gemeinbewußtsein werden müsse, auf daß sie uns nothwendig werden, wie die Luft, in der wir athmen und nicht wieder entzogen oder länger vorenthalten werden können. Ich möchte gerne von Dir erfahren, wie Du den principe des Machiavelli in Deinen Vorlesungen tractirt hast und Deine Meinung hören, was Du Dir von der angegebenen historischen Behandlung der Staatsrechtslehren versprichst.4

Dönniges hat mit seiner Vorlesung über Politik d. h. einer historischen Darstellung der gegenwärtigen Verfassung in den vereinigten Staaten, die er alle Semester wiederholt, einen glücklichen Wurf gethan, da er sie nicht nur mit Erfolg bei der Universität hält, sondern auch privatissime darüber, von angehenden Diplomaten, ja sogar von angehenden Regenten, nämlich dem Kronprinzen von Baiern begehrt werden. Auf die Einladung des letztern, welche Herrn von Humboldt’s Empfehlung herbeigeführt hat, wird er auf ein halbes Jahr nach München gehen, sein Ruf ist dadurch gemacht, der Minister Eichhorn hat ihn in seine Gunst eingeschlossen und verspricht ihm glänzende Beförderung, wenn er zurückgekehrt sein wird. Die ganze Laufbahn ist nicht ohne Gefahr; Dönniges hat sein eigentliches Fach, die Geschichte, mit den Staatswissenschaften (Nationalökonomie, Finanzwissenschaft usf.) vertauscht, um schnelleres Glück zu machen, er folgt, dabei weniger dem inneren Trieb und der Neigung als dem Ehrgeiz, und dieser letzere könnte leicht, wenn es so fortgeht, auch den inneren Menschen gefährden. In einigen Tagen geht er ab, nachdem er zuvor Hochzeit gehalten hat – heute feiern wir den Polterabend – seine Braut ist Franziska Wolff, reich, hübsch, was man so nennt, aus jüdischer Familie – die Eltern stark jüdisch. Auch bei dieser Wahl, fürchte ich, haben äußere Rücksichten mitgewirkt, die nicht zum innern Glück führen. Ich hätte sie nicht getroffen!

Ein liebenswürdiges edles Weib, mit dem man von Herzen und einig verbunden ist, ist gewiß das schönste Glück auf Erden. Darum wünsche ich Dir Glück zum Besitz Deiner lieben theuren Victorie und bitte sie von mir von ganzen Herzen zu grüßen.

Dein Carl Hegel

P. S. Meine Mutter und Bruder grüßen bestens. Der letztere ist jetzt mit seinem letzten Examen hier beschäftigt, um kurz eine Anstellung bei der Regierung dazu erhalten. Er verspricht ein tüchtiger preußischer Regierungsbeamter zu werden.