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Georg Gottfried Gervinus an Karl Hegel, Heidelberg, 16. Januar 1843

1(Notiz aus dem Briefe.)

Kürzungszeichen Liebster Erek, komme Du auf Ostern2 ein wenig hierher zu uns; es sehnt mich gar sehr einmal wieder ein Menschengesicht zu sehen, das mich an ältere Zeiten erinnert. Dann versprach ich Dir, im Jahr 1844 spätestens auch Dich entweder in Berlin im Rendez-vous oder auch selbst in Rostock zu besuchen. So lang Du noch Junggeselle bist, wachse nicht an. Ich suche mein Haus3 los zu werden, um selbst verheirathet wieder flügge zu werden; ich kann das Band an die Scholle nicht vertragen, und habe einen dummen Streich begangen, indem ich das Haus hier baute. Komme also noch es zu sehen ehe wir es abgeben (das wird freilich vielleicht auch nicht so leicht geschehen können) denn es ist wohl werth daß man es besuche. – Hoffentlich sind Deine Arbeiten etwas vorwärts gediehen? – Daß Du den Machiavelli urgiren willst, kann mir nur lieb sein; und die Aufgabe ist schön und würdig. Immer räthlicher schiene es mir, daß Du Dir etwas gewählt hättest, was nicht unmittelbarer in die Gegenwart eingriffe. Die deutschen Dinge gestalten sich alle Tage mehr so, daß man nur da etwas von dauerndem Eindruck wird hervorbringen können. Es wäre eine brillante Aufgabe z. B. (hätte ich nur Zeit dazu!) den neuen Freiheitsmännern gegenüber, die im Individualismus zerbröcklen, uns den Schriften der Alten die Züge zusammen zu stellen, die den bürgerlichen Charakter derselben und durch die Bürger ihren Staat bildeten, um aus diesem Gemälde die Thorheit dazulegen, die immer freier Staatsordnung verlangt und sich keiner Staatsforderung fügen will. Die moderne Schule predigt und das Alterthum verachtet, wo allein das Urbild von dem zu suchen ist was sie eigentlich will. Und wie viele solcher Aufgaben gibt es, die wissenschaftliche Befriedigung und praktische Einwirkung zugleich versprechen! Dahin gehören auch unsere Specialgeschichtenpläne, die ihr ganz verkannt, Beseler wie Du. Sie sollen nichts weniger als positiv sein; meine Kritik der preußischen Geschichte wenigstens soll nicht allein überall sagen was geschehen ist und nicht geschehen ist, sondern auch auf Weg und Steg was geschehen sollte und nicht geschehen sollte. Auch die Andern werden das so halten. Und wenn sie es auch nicht so halten, so ist das eine reine positive Tendenz, den einzelnen Staaten ein Bild ihrer nächsten Vergangenheit vorzuhalten (schlechterdings nicht aus animosem Sinne entworfen), im Ganzen, das sie selbst in Erstaunen und in Scham setzen muß, wenn sie die einzelnen Umrisse, die man nur davon zu kennen pflegt, im Zusammenhang sehen. An Material fehlt es leider nicht! Die geheime Geschichte ist in kleinen Staaten gar knapp beisammen; sie bedeutet nur bei großen Staaten, in auswärtigen Verhältnissen etwas – und auch da nichts! Was wird es nützen, wenn man die ersten Ideen zur Theilung Polens in Prinz Heinrichs Kopfe entdeckt haben wird? Das gibt zu der allbekannten Thatsache nicht zu und ab. – Du hattest in Deinem letzen Briefe4 den Artund5 und verlangt, ich besitze ihn aber nicht! – Was mich jetzt am meisten beschäftigt ist der Gedanke, eine deutsche Geschichte zu schreiben. Ein so günstiger Zeitpunkt wie dieser kommt nicht wieder! Leider wäre dazu nöthig, daß ich etwas mehr Mittel hätte, um mehr reisen zu können, damit ich die Localitäten des ganzen Vaterlandes in allen Winkel kennenlernen könnte. Innerhalb spätestens zweiter Jahre müßte es sich entscheiden, ob ich dazu schreiten kann, sonst wäre ich zu alt. Hätten wir nur ein Deutsches Vaterland, so fände dieß Unterstützung, wie man in Frankreich dem Herrn Ampère6 auf den ersten Band seiner Literatur-Geschichte einen Lebensgehalt gegeben hat, um sie zu vollenden. Mir für meine vollendete gibt keiner einen großen Dank. – Meine Frau grüßt Dich schönstens mit mir. Auch an Wunderlich und Thöl bestelle die besten Grüße. Der Bräutigam soll mir schreiben, wie er seine goldenen Tage verlebt, und der nicht schreiben kann soll machen daß er Bräutigam wird.7 Sage auch Wunderlich, daß er mir nicht die Cotta’sche Quälerei im Kürzungszeichen imputiren soll – ich hatte den Posten schon vor 3 Jahren bezahlt und ich schickte daher Wunderlichs groben Brief mit einem ditto meinerseits begleitet nach Stuttgart ein. Leb wohl, schreib bald, und hörst Du, komme auf Ostern!8

Dein
Gervinus.

P. S. Sei doch so gut und besorge Einlage – ich weiß nicht ob man sie grade so auf die Post geben kann. Ranzau erwartete längst, daß ihn Wunderlich einmal besuchen werde –. Sag ihm das.