Kürzungszeichen Liebster Erek, komme Du auf Ostern2 ein wenig hierher zu uns; es sehnt mich gar sehr einmal wieder ein Menschengesicht zu sehen, das mich an ältere Zeiten erinnert. Dann versprach ich Dir, im Jahr 1844 spätestens auch Dich entweder in Berlin im Rendez-vous oder auch selbst in Rostock zu besuchen. So lang Du noch Junggeselle bist, wachse nicht an. Ich suche mein Haus3 los zu werden, um selbst verheirathet wieder flügge zu werden; ich kann das Band an die Scholle nicht vertragen, und habe einen dummen Streich begangen, indem ich das Haus hier baute. Komme also noch es zu sehen ehe wir es abgeben (das wird freilich vielleicht auch nicht so leicht geschehen können) denn es ist wohl werth daß man es besuche. – Hoffentlich sind Deine Arbeiten etwas vorwärts gediehen? – Daß Du den Machiavelliurgiren willst, kann mir nur lieb sein; und die Aufgabe ist schön und würdig. Immer räthlicher schiene es mir, daß Du Dir etwas gewählt hättest, was nicht unmittelbarer in die Gegenwart eingriffe. Die deutschen Dinge gestalten sich alle Tage mehr so, daß man nur da etwas von dauerndem Eindruck wird hervorbringen können. Es wäre eine brillante Aufgabe z. B. (hätte ich nur Zeit dazu!) den neuen Freiheitsmännern gegenüber, die im Individualismus zerbröcklen, uns den Schriften der Alten die Züge zusammen zu stellen, die den bürgerlichen Charakter derselben und durch die Bürger ihren Staat bildeten, um aus diesem Gemälde die Thorheit dazulegen, die immer freier Staatsordnung verlangt und sich keiner Staatsforderung fügen will. Die moderne Schule predigt und das Alterthum verachtet, wo allein das Urbild von dem zu suchen ist was sie eigentlich will. Und wie viele solcher Aufgaben gibt es, die wissenschaftliche Befriedigung und praktische Einwirkung zugleich versprechen! Dahin gehören auch unsere Specialgeschichtenpläne, die ihr ganz verkannt, Beseler wie Du. Sie sollen nichts weniger als positiv sein; meine Kritik der preußischen Geschichte wenigstens soll nicht allein überall sagen was geschehen ist und nicht geschehen ist, sondern auch auf Weg und Steg was geschehen sollte und nicht geschehen sollte. Auch die Andern werden das so halten. Und | wenn sie es auch nicht so halten, so ist das eine reine positive Tendenz, den einzelnen Staaten ein Bild ihrer nächsten Vergangenheit vorzuhalten (schlechterdings nicht aus animosem Sinne entworfen), im Ganzen, das sie selbst in Erstaunen und in Scham setzen muß, wenn sie die einzelnen Umrisse, die man nur davon zu kennen pflegt, im Zusammenhang sehen. An Material fehlt es leider nicht! Die geheime Geschichte ist in kleinen Staaten gar knapp beisammen; sie bedeutet nur bei großen Staaten, in auswärtigen Verhältnissen etwas – und auch da nichts! Was wird es nützen, wenn man die ersten Ideen zur Theilung Polens in Prinz Heinrichs Kopfe entdeckt haben wird? Das gibt zu der allbekannten Thatsache nicht zu und ab. – Du hattest in Deinem letzen Briefe4 den Artund5 und verlangt, ich besitze ihn aber nicht! – Was mich jetzt am meisten beschäftigt ist der Gedanke, eine deutscheGeschichte zu schreiben. Ein so günstiger Zeitpunkt wie dieser kommt nicht wieder! Leider wäre dazu nöthig, daß ich etwas mehr Mittel hätte, um mehr reisen zu können, damit ich die Localitäten des ganzen Vaterlandes in allen Winkel kennenlernen könnte. Innerhalb spätestens zweiter Jahre müßte es sich entscheiden, ob ich dazu schreiten kann, sonst wäre ich zu alt. Hätten wir nur ein Deutsches Vaterland, so fände dieß Unterstützung, wie man in Frankreich dem HerrnAmpère6 auf den ersten Band seiner Literatur-Geschichte einen Lebensgehalt gegeben hat, um sie zu vollenden. Mir für meine vollendete gibt keiner einen großen Dank. – Meine Frau grüßt Dich schönstens mit mir. Auch an Wunderlich und Thöl bestelle die besten Grüße. Der Bräutigam soll mir schreiben, wie er seine goldenen Tage verlebt, und der nicht schreiben kann soll machen daß er Bräutigam wird.7 Sage auch Wunderlich, daß er mir nicht die Cotta’sche Quälerei im Kürzungszeichen imputiren soll – ich hatte den Posten schon vor 3 Jahren bezahlt und ich schickte daher Wunderlichs groben Brief mit einem ditto meinerseits begleitet nach Stuttgart ein. Leb wohl, schreib bald, und hörst Du, komme auf Ostern!8
Dein Gervinus.
P. S. Sei doch so gut und besorge Einlage – ich weiß nicht ob man sie grade so auf die Post geben kann. Ranzau erwartete längst, daß ihn Wunderlich einmal besuchen werde –. Sag ihm das.
1Tilgung: Lieber Erich. 2Die Ostertage fielen im Jahr 1843 auf den 16./17. April. 3Georg Gottfried Gervinus (1805-1871) hatte 1839 das „Haus Felseck“, die frühere „Wirthschaft zum Steinbruch“, an der Chaussee, Adresse 1880: Neuenheimer Landstraße 48, Heidelberg-Neuenheim, erworben, entsprechend umgebaut und Weinberge erworben; er verkaufte sein Eigentum wieder im Jahr 1844 an den Rechtswissenschaftler und liberalen Politiker Karl Theodor Welcker (1790-1869). 4Vgl. Brief 18420724_01. 5Unsichere Lesart; der Name wurde nachträglich von der Kopistin ergänzt. Im Bezugsbrief ist „Artand“ bzw. „Artond“ gelesen. 6Jean-Jacques Ampère (1800-1869) verfasste u.a. die jeweils dreibändigen Werke „Histoire littéraire de la France avant le XIIe siècle“ (1839) und „Histoire de la littérature au moyen âge“ (1841). 7Johann Heinrich Thöl (1807-1884), Jurist, war zu dieser Zeit ein Kollege Karl Hegels (1813-1901) an der Universität Rostock, welcher seit 1844 mit Elise Levenhagen (184-1872) verheiratet war, während sein anderer Rostocker Kollege, ebenfalls Jurist, Agathon Wunderlich (1810-1878), wohl bereits 1843 geheiratet hatte; vgl. dazu die entsprechenden Biographien, bei Thöl auch die Genealogie, s.v. DB , DB . 816./17. April 1843.
Gervinus (Gervin), Georg Gottfried jun.Georg Gottfried Gervinus11853891818051871Gervinus, Georg Gottfried jun. (1805–1871), deutscher Historiker, Literaturhistoriker und Politiker, Sohn von Georg Gottfried Gervinus sen. (1765–1837) und seiner Ehefrau Anna Maria Magdalena Gervinus, geb. Schwarz (1772–1837). Er war Ehemann von Victorie Gervinus, geb. Schelver (1820–1893), 1835/1836 Professor der Geschichte und Literatur an der Universität Heidelberg, 1836/1837 an der Universität Göttingen (einer der „Göttinger Sieben“), 1844 Honorarprofessor an der Universität Heidelberg, 1848 Mitglied der Frankfurter Paulskirchen-Versammlung.
Hegel, KarlKarl Hegel
HiKo
11657075X
Heidelberg49.4093582,8.694724Alte Universitätsstadt am Neckar, seit 1803 zum Großherzog Baden gehörend und mit Eisenbahnanschluß seit 1840. Circa 90 Kilometer südlich von Frankfurt am Main gelegen, war die Stadt mit ihrer malerischen Schloßruine einer der Hauptorte der Romantik.
UB Heidelberg
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UB Heidelberg1000
Machiavelli, NiccolòNiccolò Machiavelli11857577514691527Machiavelli, Niccolò (1469–1527), in Florenz geborener Politiker, Diplomat, Schriftsteller und Philosoph.
Beseler, Georg Karl ChristophGeorg Beseler11851019318091888Beseler, Georg (1809–1888), Jurist und preußischer Politiker, war in der Heidelberger Studienzeit neben Georg Gottfried Gervinus (1805–1871) einer der beiden engsten Freunde Karl Hegels (1813–1901). Er wurde ordentlicher Professor der Rechtswissenschaft an den Universitäten Rostock, Greifswald und Berlin.
Heinrich von Preußen11870978X17261802Prinz Heinrich von Preußen (1726–1802), war das 13. Kind des seit 1713 regierenden preußischen Königs Friedrich Wilhelm I. (1688–1740); schon als Jugendlicher militärisch gleichsam aktiv wie erfolgreich, kam ihm später als Diplomat im Zuge der Teilungen Polens (1772, 1793, 1795) seit 1770/71 eine besondere Rolle zu.
Ampère, Jean-Jacques10000967018001864Ampère, Jean-Jacques (1800–1864), war ein französischer Historiker, Schriftsteller und Philologe, seit 1830 Professor an der Sorbonne, welcher mehrere Publikationen zur Literaturgeschichte Frankreichs, teilweise auch unter komparatistischen Gesichtspunkten (er hatte im Vorfeld u. a. auch deutsche Staaten bereist und war Gast Johann Wolfgang Goethes (1749–1832) gewesen), verfasste, darunter die jeweils dreibändigen Werke „Histoire litteraire de la France avant le XIIe siècle“ (1839) und „Histoire de la littérature au moyen âge“ (1841), welche von Karl Hegels (1813–1901) Jugendfreund Georg Gottfried Gervinus (1805–1871) rezipiert wurden.
Schelver, Victorie (Victoria), verh. GervinusVictorie Schelver, verh. Gervinus11659528018201893Schelver, Victorie (Victoria) (1820–1893), Gesang- und Klavierlehrerin, Musikwissenschaftlerin, Ehefrau von Georg Gottfried Gervinus jun. (1805–1871).
Wunderlich, Agathon Gottlob Friedrich WalterAgathon Gottlob Friedrich Walter Wunderlich11735444918101878Wunderlich, Agathon Gottlob Friedrich Walter (1810–1878), in Göttingen geborener Sohn des Klassischen Philologen Ernst Karl Friedrich Wunderlich (1783–1816) und Bruder des preußischen Konsistorialpräsidenten Oskar Wunderlich († 1882). Er war von 1842 bis 1847 ordentlicher Professor der Rechtswissenschaften an der Universität Rostock, vorher vier Jahre an der Universität Basel und ab 1847 an der Universität Halle, bevor er 1850 Richter am gemeinschaftlichen Oberappellationsgericht der vier Freien Städte des Deutschen Bundes in Lübeck wurde.
Thöl, Johann HeinrichJohann Heinrich Thöl11875716418071884Thöl, Johann Heinrich (1807–1884), in Lübeck geborener Rechtswissenschaftler, der von 1826 bis 1829 an den Universitäten Leipzig und Heidelberg studierte, 1829 promoviert wurde und sich 1830 habilitierte. Von 1842 bis 1849 war er ordentlicher Professor der Rechtswissenschaften an der Universität Rostock, dann bis zu seinem Tode an der Universität Göttingen. In den Jahren 1848/49 war er Mitglied der Frankfurter Nationalversammlung.
Rantzau-Breitenburg, Kuno10097556918051882Rantzau-Breitenburg, Kuno (1805–1882), auch: Ranzau, war ein deutscher Adeliger, Jurist und Architekt, der mit Georg Gottfried Gervinus (18105–1871) in Kontakt stand und auch mit diesem schrieb.
Berlin52.5170365,13.3888599Hauptstadt des Königreichs Preußen und ab 1871 auch des Deutschen Reiches.
Rostock54.0886707,12.1400211Hansestadt an der Ostseeküste des Großherzogtums Mecklenburg-Schwerin mit der 1419 gegründeten ältesten Universität im Ostseeraum.
PolenLand im nordöstlichen Europa gelegen an der Ostsee, heute Nachbarland von Deutschland, Tschechien, Slowakei, Ukraine, Belarus (Weißrussland) und Russland.
FrankreichNach der Französischen Revolution von 1789 wurde das in Westeuropa am Atlantik gelegene Frankreich 1791 konstitutionelle Monarchie, 1793 Republik, 1804 Kaiserreich, 1830 Königreich, 1848 wieder Republik, 1852 erneut Kaiserreich und von 1871 bis 1940 zum dritten Mal Republik.
Stuttgart, auch: Stuttgard48.7784485,9.1800132Am Neckar gelegene Haupt- und Residenzstadt des Königreichs Württemberg.
Erich, auch: Erec/Erek/ErikSpitz- bzw. Kosename für Karl Hegel (1813-1901) von seinem Jugendfreund Georg Gottfried Gervinus (1805-1871) verwendet.
Rendez-Vous, auch: rendez vousRendezvous im Sinne von Verabredung, persönliches Treffen gebraucht.
urgiren (urgieren)Aus dem Lateinischen von „urgere“ besonders im Österreichischen und Süddeutschen verwendet für: drängen, auffordern, sich ausbitten. bestehen.
Deutsch/deutsch, Deutsche/r; DeutschesAuf die deutschen Staaten bezogen, den deutschen Staaten zuzuordnen, zu den deutschen Staaten gehörend; deutschsprachig; deutsche Sprache; Angehörige/r der deutschen Staaten, Deutschlands.
Alterthum, AltertumAus dem Neuhochdeutschen stammender Begriff ursprünglich für „Alter“, „Altsein“ stehend, dann Begriffswandlung hin zu: „Alter Zeit“, oftmals, durchaus aber umstritten, im Verständnis als Teil der Weltgeschichte bzw. Zeitalter, das vor dem Mittelalter lag. Seit dem 19. Jahrhundert immer mehr als Synonym für Antike gebräuchlich in Form einer Bedeutungsverengung auf den griechisch-römischen Teil des Altertums.
SpecialgeschichteAls, eher seltenes, Synonym gebraucht für Heimat-, Lokal- und Regionalgeschichte; auch für die Geschichtswissenschaft im Allgemeinen in Abgrenzung zu geschichtsinteressierten Laien als Rezipierende.
preußischZu Preußen gehörend, auf Preußen bezogen, sich auf Preußen beziehend.
MaterialGesamtheit der Quellen, Dokumente und entsprechenden Unterlagen, die für ein bestimmtes Forschungsvorhaben die zu bearbeitende Basis bilden.
GeschichteGeschichtswissenschaft als Universitätsdisziplin sowie als gymnasiales Unterrichtsfach; auch: historische bzw. gesellschaftswissenschaftliche Abhandlung, Darstellung, Monographie über einen speziellen konkreten oder abstrakten Forschungsgegenstand wie z. B. die Geschichte einer Stadt, Geschichte einer wissenschaftlichen Disziplin etc.
Staaten, Deutsche/deutscheMitgliedsstaaten des Deutschen Bundes (1815-1866).
StaatAus dem Lateinischen („status“) stammender Begriff, der im Niederländischen bereits im 15. Jahrhundert gebaucht wurde für Zustand, Stand und welcher auch das Gemeinwesen im Sinne von „res publica“ zu umschreiben begann, nach moderner Staatstheorie ein Zweckverband mit der Aufgabe, das Zusammenleben und -wirken von Menschen innerhalb eines Zweckverbandes eines bestimmten, abgegrenzten Territoriums friedlich, dauerhaft und geordnet zu gestalten; zugleich: Territorium eines Staates als Staatsgebiet; auch: festliche (offizielle) Kleidung.
VaterlandHeimatland, Geburtsland.
Literaturgeschichte, Literatur-Geschichte, LitteraturgeschichteBeschäftigung mit den national überlieferten sprachlichen, künstlerisch gestalteten Texten und Zeugnissen in ihrem historisch-zeitlichen Verlauf.
Cotta’sche VerlagsbuchhandlungIm Jahre 1659 in Tübingen gegründeter Verlag, den 1787 Johann Friedrich Cotta (1764-1832) von seinem Vater übernahm und zum wichtigsten Verlagsunternehmen seiner Zeit machte, das ab 1798 auch die „Allgemeine Zeitung“ herausbrachte, die sich im 19. Jahrhundert zu einer der führenden deutschen Tageszeitungen entwickelte. Ab 1832 blieb der Verlag im Besitz der Familie und wurde weiter ausgebaut.
dittoAus dem Italienischen für: genannt.
EinlageBriefeinlage in einem anderen Brief, auch Kuvert; Briefsendung die eingelegt wird, auch Einlage in einen Brief- oder Postkasten, Postfach; gelegentlich auch Synonym für Einschreiben (Einwurf); Spareinlage als Geldanlage zu Sparzwecken.
Post Gasthaus in Berchtesgaden; Synonym für Postwesen als Überbegriff für die gewerbliche Beförderung und Verteilung schriftlicher Nachrichten durch entsprechende zuständige Institutionen (z. B. privates Unternehmen, staatliche Einrichtung etc.); erste Errichtung von Poststationen bereits in der römischen Antike unter Augustus (63 v. Chr.-14 n. Chr.); im deutschsprachigen Raum wurde der Begriff Post im 16. Jahrhundert geläufig; auch: Postkutsche zum Personentransport.
Mehrere Registerverweise
Zitierempfehlung
Die wissenschaftliche Korrespondenz des Historikers Karl Hegel (1813-1901), bearbeitet von Helmut Neuhaus und Marion Kreis