XML PDF

Immanuel Hegel an Karl Hegel, Magdeburg, 4. Februar 1843

Lieber Karl!

Der sehnlich erwartete Brief der Mutter ist endlich gekommen; ich übersende ihn Dir mit dem Brief der Tante Louise, welchen letzteren ich mir zur Beantwortung zurückerbitte. Der Anthrax mit seinen Kindern ist noch nicht vertrieben; doch muß die Mutter wohl aussehen, da Affinger ihr Bild unternommen hat, auf welches ich mich unendlich freue. Von der freundlichen Einladung werde ich wohl nicht Gebrauch machen können; bei längerer Abwesenheit muß ich einen Vertreter haben, welcher nicht leicht zu finden ist; einmal im Amt1 unterliegt die persönliche Freiheit einer großen Beschränkung; auch muß ich den Geldpunkt berücksichtigen, da ich bei sehr einfacher Lebensweise über 600 thaler hier jährlich brauche und noch mehrere Jahre auf Diäten warten kann.

Deine Abhandlung über Dante habe ich mit großem Interesse gelesen2; durch den gezogenen Umriß ist mir die Grundlage und der Zweck des großen Werks anschaulich geworden, welches mir bisher zu fremdartig erschien und zu dem mir die Handhabe fehlte. Ich habe dadurch eine ernste Aufforderung erhalten, mich mit dem Werk gründlich bekannt zu machen, und werde sie nicht vergessen. Daß Du nach beendigter Arbeit nicht befriedigt bist, kann ich begreifen, da uns ein Stückwerk nicht genügt, wenn wir ein großes Ganzes im Auge haben. Wir jedoch erfreuen uns dessen, was vorliegt, und warten ruhig und mit Vertrauen ab, was uns die spätere Vollendung gewähren wird. Für ein Antrittsprogramm scheint es mir ein glücklicher Gegenstand und eine durch vielseitige Entfaltung, klare Entwicklung und abgerundete Form gelungene Arbeit. Mit den Schlußbemerkungen über das Verhältniß der Kirche zum Staat kann ich zwar nicht einverstanden sein, doch will ich kein definitives Urtheil aussprechen, weil die Frage eine sehr gründliche Erwägung verlangt. Ich habe mich gewöhnt, die Kirche als ein Glied des Staates zu betrachten, dem es wegen seiner Kvalität3 als öffentliches Institut nothwendig angehört, indem der Staat die ganze menschliche Wirksamkeit in sich begreift. Wegen ihrer Aeußerlichkeit ist sie durchaus rechtlich und politisch; ohne die rechtliche Anerkennung ihrer Existenz ist sie ein Schatten, ein willkührliches Privatwesen – wie die Alt-Lutheraner. Der Staat muß sie durch Gesetz in sich aufnehmen, eine politische und rechtliche Existenz geben. Dadurch soll sie keine Polizei-Anstalt, ihre Verwaltung ganz der Büreaukratie einverleibt, ihr die nothwendige Autonomie genommen werden. Gleich den anderen Organen des Staats und vorhandenen gesellschaftlichen Verbindungen muß ihr die Selbstbestimmung in Erreichung ihres Zwecks, muß ihr, wie den bürgerlichen Gemeinden eine freie Verfassung gegeben werden. Für die Kirche verlangt man dies in höherem Grade, als für alle anderen politischen Gesellschaften, sowohl wegen der Natur ihres Zwecks, welche der absolut freie Geist selber ist, als wegen des durch die christliche Religion gegebenen Selbstbewußtseyns und Selbstbestimmung. Ich will für die protestantische Kirche die Presbyterialverfassung; ihre Zwecke sind aber der Staatsgewalt nicht fremd, sondern sind besondere Zwecke ihres allgemeinen menschlichen Zwecks. Die jetzigen kirchlichen Bewegungen, das Verlangen der Kirche nach Freiheit entspringt aus der allgemeinen politischen Sendung unserer Zeit. – In dieser Weise faße ich im Allgemeinen das Verhältniß der Kirche zum Staat auf.

Du wirst hiernach vielleicht meinen, daß ich im besten Zuge bin, politische Zeitungsartikel zu schreiben. Doch, um mit Schelling zu sprechen, die Potenz oder vielmehr das Seynwollen ist nicht actus geworden. Zuerst verhinderte mich Mangel an Zeit, und jetzt ist es überflüssig geworden, da alle bösen Mäuler gestopft worden sind. Wer hätte unserer Presse ein so kurzes Leben vorhergesagt! Unbegreiflich kann man das Verfahren unserer Regierung nicht nennen; man möchte aber aus der Haut fahren und fast auf den Gedanken kommen, daß ohne eine Krisis die Herren sich ihres alten Adams zu entäußern nicht fähig seien. Es ist beklagenswerth; wir schienen auf dem besten Weg des Fortschreibens; es fehlt ihnen aber ebenso der Muth, als die politische Weisheit; sie können über den Beginn preußischer Administration, welchen ich keineswegs gering schätze, der aber doch nur ein beschränkter Gesichtskreis ist, nicht hinaus. Ich bin durchaus nicht für politische Sprünge; denn solche führen zu Konfusionen im politischen Leben und Verwirrungen der politischen Bildung und bringen nur unwahre Formen hervor; aber eine freie Presse, auch feste Gesetzgebung konstituirt, halte ich für ein nothwendiges Bedürfniß; sie gibt der Nation die Sprache und das Selbstbewußtsein, und damit ist dem Staat eine naturgemäße Entwicklung gesichert. Nun werden wir auf Um- und Irrwegen zum Ziele kommen müssen.

Aus Berlin habe ich gar keine Nachrichten erhalten; die Mutter erwähnt das Zeitungsgerücht, daß Marheineke eine neue wißenschaftliche Zeitung gründen wolle. Wie ich in Berlin war, sprach er sich unzufrieden über die Jahrbücher und die Konnivenz von Henning aus4 und erklärte, sich davon ganz lossagen zu wollen.

Mein hiesiger Zustand hat eine etwas seltene Farbe gewonnen: die Marlene ist jetzt hergezogen und hat ihren Hausstand gegründet, an dem ich als Hausfreund Theil nehme; sie ist eine herzensgute liebe Frau, hat 3 prächtige Kinder, und ihr Mann ist nicht bloß ein sehr tüch- tiger Beamter, sondern auch ein einfacher offener gutmüthiger Mann, der ebenfalls an litterarischen Interessen Theil nimmt. Die Mutter Guenther wird nächstens zum Besuch hierher kommen; William aber wohl in Berlin beim Finanzministerium bleiben, da die häuslichen Verhältnisse seine bleibende Anwesenheit in Berlin dringend nothwendig machen. – Sonntag Abends gehe ich in der Regel zum Oberpräsidenten, in dessen liebenswürdiger Familie ich mich sehr behaglich fühle.5 – Morgen6 will ich aber mal zur Abwechslung nach Schoenebeck zum Kommerzienrath Herrmann, Vetter von der Marheineke, mit deren Bruder Weinhändler Mewes auf der Eisenbahn fahren7; jener hat dort eine sehr bedeutende chemische Fabrik. – Mit der Polizeiverwaltung habe ich jetzt nichts mehr zu thun, sondern bearbeite nur in der zweiten Abtheilung die äußern Kirchen- und Schulangelegenheiten, außerdem beschäftigt mich der Oberpräsident.8 Ich habe also hinreichend zu thun und komme wenig zum Lesen; aus Pflicht las ich in den letzten Tagen den punische Krieg9 von Vincke, welcher jetzt hier mein Kollege10, ihn mir verehrt hatte; auf Grund Heerendscher sogenannter Ideen der Kriegsplan sehr weitschweifig mit Vinkescher Beredsamkeit ausgeführt. Dazwischen las ich das Buch von Eylert, allerdings viel breite geistliche Beredsamkeit; aber eine schöne reine Gesinnung, Liebe und Begeisterung ohne Unwahrheit; im Ganzen ein herrliches Charakterbild, ein schöner sittlicher Spiegel, unvergleichliche Züge und Anekdoten, die ich mit Rührung mehr als einmal lese, verbunden mit interessanten Schilderungen anderer Personen; in Absätzen lese ich das Buch mit Erbauung und innigem Vergnügen.11

Die Rostocker grüße herzlich und erzähle mir, wie es ihnen geht. Deine offene Erklärung über Louise Christiansen12 zur Kierulf und über ihre Aufnahme habe ich mich sehr gefreut: der gerade Weg ist besonders in Liebessachen immer der beste. Was macht Ackermann und Wunderlich? Leb wohl, lieber Karl,

Dein Bruder Immanuel.