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Maria Helena Susanna Hegel, geb. Tucher, an Karl Hegel, Nürnberg, 21. Februar 1843

Deinen lieben Brief vom 12ten2 mein lieber Karl, erhielt ich Sontag den 19ten bei meiner Nachhausekunft von einem Diner bei Gottliebs3 – wo wir 7 Geschwister4 und 4 Schwäger5 inclusive Frida und Wilhelm vereint, Luisens Geburtstag den 18ten zu dem die lieben Leitheimer6, Freitag7 Abend angekommen waren, nachfeierten – Auf die Zeit meiner Wiederherstellung, war diese Einladung verschoben worden – Es war ein oft ausgesprochener Wunsch von uns allen, könnten wir 7 Geschwister doch einmal wieder vereint seyn – Seit 27 Jahren fehlte immer das Eine oder das Andere, wenn auch die Mehrzahl vereint war – Nun ich Gottlob wieder so weit erstarkt bin, daß mich solche liebe Unruhe nicht mehr angreift, erging an Wilhelm von Gottliebs und Siegmunds8 zugleich die Einladung. Sie hatten beide denselben Gedanken, uns alle mit dieser Einladung und Wilhelms und Fridas Ankunft zu überraschen, rüsteten sich beide insgeheim auf die Ankunft der lieben Gäste. Ohne daß wir Andern davon etwas merkten wurden Sophies Zimmer zum Gastzimmer für sie umgeräumt, indeß Gottliebs ihre Antwort bleiben und auf Ungewisse hin auf ihre Ankunft und Antwort warteten. Freitag Abend sollten Gottliebs und Siegmunds zur Vorfeier von Luisens Geburtstag bei Siegmunds bei uns seyn; es wurde der große Saal geheizt – der Theetisch viel schöner als gewöhnlich auch geputzt – „Kinder was macht ihr heute für Umstände“ da rollte ein Wagen vor und Luise rief „am Ende kommt gar Wilhelm! – und wie electrisirt liefen wir alle ihr nach die Treppe herunter – und siehe da hob Wilhelm seine Frida aus dem Wagen heraus – das war eine Freude und Jubel im Bewillkommen Küssen – das ihr ja aus eigener Erfahrung kennt. – Hättet ihr nur mit dabei seyn können, ihr wirdet das schöne liebe Tantchen eben so lieb gewinnen als wir. Sie ist mit 24 Jahren noch eben so schön als mit 18! und mir jetzt noch lieber als damals, denn sie ist eine gute Mutter von 4 Kindern9, macht unsern Wilhelm so glücklich – ist bei so vielen Vorzügen so anspruchslos und findet in Mann und Kindern und Eltern in ländlicher Einsamkeit ihr ganzes Glück. Seit 4 Jahren war sie nicht hier und nicht vom Haus weggekommen – und ist nun über dieß Glück unseres Wiedersehens und über die Möglichkeit, daß ihr dieser Wunsch gewährt werden konnte, hoch erfreut. Ihr jüngstes Kindchen ist 3 Monate10 – sie brachte kein Kind mit, weil Gottliebs und Siegmunds Kinder die Keuchhusten gehabt, und sie noch eine mögliche Ansteckung fürchteten. – Ich bin nun dringend nach Leitheim auch von Seiten der Eltern eingeladen – sie bleiben bis 5 - 6 März – und bleibt es mit meinem Wohlbefinden so wie jetzt, so möchte ich wohl mit ihnen dahin reisen. – Du warnst mich dringend, mein guter Karl, vor der Reise im März nach München – Glaube mir, ich bin gewitzigt genug und werde nicht ohne Einwilligung meines sehr ängstlich besorgten Arztes und der lieben Geschwister – reisen – Aber es scheint mir wirklich, daß ich die langwierige Chur für beendigt ansehen darf. Die Geschwüre sind nach und nach ausgeheilt und neue Lebenskraft und Wohlseyn, ja ein zunehmendes stärker werden und Wohlergehen, läßt mich hoffen, daß ich villeicht  gründlicher erstarkt und wiedergenesen bin als je – Seit 14 Tagen geht es, und ging es von Tag zu Tag auswärts. Ich machte schon einen Spaziergang von 2 Stunden, um den Graben zum Hallerthürle heraus, Wartherthor herein, durch die Stadt – wo ich mich mit 11 im schönsten Sonnenschein auf die Bank am Kühbergla beim Vestnerthor hinsetzte und und auf die freundliche Ebene mit ihren weiten Dörfern und gemeinen Saatfeldern seitwärts den Rothenberg – erfreute –

Die Unruhe dieser Tage, die laute Conversation, die mir anfangs meines Hierseyn Angstschweiß erpreßte, fühlten meine Nerven nicht mehr – ich bin am Abend noch aber so frisch – zur Freude meiner Lieben, die mich aufs strengste beobachten und contruliren – 12 Also, wenn Sophie Reuter und die andern Wächter Zions13 mich fortlassen, und wenn sich mein Wohlseyn 14 Tage lang noch so fort bewährt, so möchte ich wohl den 6ten März ohngefahr mit Wilhelms nach Leitheim, und 8 Tage dort bleiben. –

Siegmunds die vergangenen Herbst dort waren, machen mir das freundlichste Bild von ihrem einfachen, herzlich bescheidenen Zusammenleben und die Mutter sey gemüthlich, offen – interessirt sich besonders für mich, weil ich eine Art von barmherziger Schwester bin – Frida sagte mir – es ist ein seliger Beruf! die liebste Freundin meiner Mutter hat ihn auch erwählt ff14

So käme ich Mitte März nach München und bliebe da aber 3 - 4 Wochen – Ich erkläre von forne herein, daß ich keine Einladungen dort annehme, Abend nicht ausgehe – was soll mir da die Münchner Luft schaden? –

So lang ich im Kloster bin – wohne ich gegen über bei einer Freundin der Luise15, die mir für 6 Monate ihr Gastzimmer einräumt und will für diese Zeit mich einzig und allein auf das Kranken Haus16 beschränken – incognito dort seyn. – Daß die Nürnberger Zeitung meine Reise nach München insgesamt und ander Zeitungen diese geringfügige Neuigkeit, auf Hegel’s Namen hin aufgenommen war mir und auch Goßner sehr ärgerlich – es wäre mir arg, wenn es wieder aufgerührt würde – ich gehe daher, wenn ich hier fort gehe nur nach Leutheim Leitheim – und steige dann in München bei Frau Maler Heringmann incognito ab- und bitte Niethammers von meiner Ankunft nicht weiter zu reden – bis ich (aus dem Kloster) zu ihm zum Besuch komme, wo ich dann auch das Gaststübchen, das mir 17 schon Mitte November eingeräumt hat, bewohnen will – Das KrankenHaus in München, den Haushalt, die Küche und Krankenpflege der barmherzigen Schwestern kennen zu lernen, ist für mich und unser Elisabeth Kranken Haus von unschätzbaren Werth. Nun, ich selbst weiß was wir bedürfen, was uns ermangelt, was wir in Frage stellen und wo wir im Dunkeln herum tappen, und was wir nach eigenem besten Wissen, ohne ein Vorbild, eingerichtet haben – Seh ich einen ähnlichen Haushalt mit Augen, die sich alles Gute und Nachahmungswerthe absehen, alles greifen und das Beste behalten möchten, an – Wie vielseitig ist solch ein Haushalt, wie viel kann man da von den Erfahrenen lernen – Wär es nicht unverantwortlich, wenn wir uns, mit dem wie wir es eingerichtet genügen ließen – von Anderen keine Notiz nehmen – wo 100 Jahrige Erfahrung, bienenartiger Ordnungssinn, Liebe und Treue in einem solchen Haushalt verwaltet? – Wie viel den Wärterinnen zugemuthet werden darf soll die Kraft ausreichen? – –

Ich habe viele Fragen und Anliegen die mir diese Reise beantworten soll – und ich habe die innere Gewißheit, den jedem sichtlichen Glauben – Gott wird mich dazu stärken, Er gibt mir dazu die Kraft – Ich wäre strafbar wenn ich aus ängstlicher Besorgniß dieser Pflicht nicht genügte, sobald mir Gott die Kraft und Gesundheit dazu schenkt. Mein Aufenthalt im Kranken Haus ist ja auch nicht anstrengend – ich bin ja nur Zuschauer – frage, lerne, mache gute Freundschaft mit den 18 – möge mir die Empfehlung der Gesellschaft 19

Das Weitere wäre der mir so liebe Gedanke, den Ihr Lieben20 beide habt – mich und die lieben Tanten hier zu besuchen – Es wäre eine Freude für Alle aber freilich erkauft Ihr sie theuer – Zieht den Beutel zu Rathe Ihr Lieben – Ich will, so sehr es mich freute, Euch nicht zu dieser Ausgabe verführen – und würde mich eben so unseres Wiedersehens in Berlin erfreuen – War ich in München, so bleibe ich hier nur noch um mich ein wenig auszuruhen – Mögte gar zu gerne Ostern21 – wenn es Gottes Wille ist – in Berlin seyn – Aber ich leg es in Gottes Hand, und will meins nicht für gewiß denken dann es kam schon so oft anders, als ich dachte! –

Mit Goßner bin ich fortwährend in letzter Zeit in Correpondenz – er schreibt augenblicklich, seine Briefe sind mir und bringen mir Kraft und Freudigkeit Herzstärkung und Leben. –

Einmal habe ich mich über ihn beklagt und ihm geschrieben er hätte mir damit, daß er in dem letzten Bericht des Kranken Hauses, den er mir zuschickte Hegels Schreibtisch erwähnte weh gethan – Er heißt (unter den Schenkungen) was das Merkwürdigste ist, der Schreibtisch des berühmten Philosophen Hegel würde uns geschenkt und leistet in der Speisekammer vortreffliche Dienste –

Darauf antwortete er mir 22

Wer kann Sie bestreiten, was ich über Hegels Tisch schrieb, es ist ihm ja eine größere Ehre angethan als wenn er in der Katholischen oder Lutherischen Kirche zum Altartisch und Tabernakel oder Bundeslade gemacht wäre. Daran können nur profane Leute sich stoßen, die nicht wissen daß der Krankendienst Gottesdienst, das höchste und beste in der Religion ist. Wenn der König mir sein 23 und Krone schenkt, ich wollte damit ins Kranken Haus um den nakten Jesus und den armen Reuber damit zu kleiden. Wenn sich Hegel in der Ewigkeit nicht darüber freut, ist er nicht selig –

Nun geht’s zu Tisch – Also nun noch ein Herzliches Lebewohl! – Grüße von Allen, besonders von Frida, die eben in meinem Stübchen war und Eure Bilder sah, die die 24 für diese Mutter gezeichnet, und in Deinem Dagueriotip25 Bild, Imanuel sah und den Einen, mit dem Andern verglich – und sie denselben Immanuel erkannte –

Wir haben in den letzten Tagen von Siegmund und Schwarzens solche Familienbilder bekommen – sie schickten sie den Kindern26 nach Grancon und Lausanne und ich bekam die Dubletten – Eure Gesundheit ist in Champagner oft erklungen – Ja wärt Ihr nur hier!! – Die guten erfreulichen Nachrichten von Dir lieber Karl und Deinen Freunden erfreuen mich sehr – Gott seys gedankt daß es Euch Beiden so wohl geht! – Grüße die lieben Röpers und versichere sie meiner Theilnahme. Deinen lieben Freund Thöl 27Hoffmanns 28. Es freut mich daß Du Dich an Hoffmann und seine Frau so hingezogen fühlst – Wie geht es Kupsch und Kind? Kannst Du durch Buchhendler Gelegenheit, die 50 Exemplare Trostbücher29, die Du noch behalten hast, nach Nürnberg schicken, so wär es mir lieb – hier ists wohl angewendet und besser und richtiger als in Rostock –  –

Danke lieber guter Manu, für Deinen Brief  und Notiz über Whist –  – Grüße mir Macluino30, ich freue mich daß Du an ihnen ein befreundetes Haus hast – Für deren Frau sorg ich nicht weiter –  – Lebt wohl Ihr Lieben, Gott schütze und segne Euch! –

Eure getreue Mutter