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Immanuel Hegel an Karl Hegel, Magdeburg, 22. Mai 1843

Lieber Karl!

In dem Augenblicke, da ich hier schreibe, wird die Mutter in Berlin wahrscheinlich beim alten Goßner in der Freude des Wiedersehens schwelgen. Am Sonnabend2 Morgen erhielt ich von ihr einen Brief mit der Nachricht, daß sie an demselben Tage in Halle eintreffen würde. Ich machte mich alsbald per Eisenbahn dahin auf und traf sie am gedeckten Tisch bei Tholucks. Sie sieht recht wohl wieder aus, hat runde Bäckchen, klare Augen und Ruhe in ihrem Wesen, so daß sie mir gesünder und frischer erschien, wie jemals. Die Reise hatte sie ohne Belästigung, theilweise in Gesellschaft von Döderlein, der nach Pforta zum Jubelfest3 reiste, gemacht. Wie ich ihr heiteres freundliches Gesicht sah, erkannte ich allerdings noch mehr, daß das Bild von Affinger viel zu scharf, ernst und energisch aufgefaßt ist.4 Dies haben die Nürnberger5 verschuldet, indem sie den ersten Entwurf zu geschmeichelt fanden und dem Künstler aufgaben, dasselbe treuer nach der Natur zu überarbeiten.

Die kleine Tholuk, welche auch wohler aussah, erschien mir in ihrem Hause außerordentlich liebenswürdig; sie ist in der That ein seltenes Wesen; wir logirten beide in ihrem Hause. Tholuck ließ sich dabei in seiner Ordnung und Lebensweise nicht stören und war daher nur Mittags und Abends sichtbar. Zu ihm bleibt bei der großenVerschiedenheit der Standpunkte und des Berufs das Verhältniß immer kühl und förmlich, obwohl ich mich über Aufmerksamkeit in keiner Weise zu beklagen habe. Am Sonntag6 Morgen hörten wir ihn predigen; in Vortrag und Sprache blieb die Predigt hinter meiner Erwartung zurück, auch zeichnete sich die Predigt nicht durch Reichthum der Bilder und lebendige Anschauung aus: sie war fast dogmatisch, aber im Gehalt klar und scharf entwickelt und gut durchgeführt. Vormittags machte ich noch Besuche bei Hermann, Dunker, welcher in dieser Woche Hochzeit hält7, Schaller und Leo. Schaller hat mir recht wohl gefallen, ein verständiger behaglicher Mann. Tea überraschte mich, da ich mir von ihm ein ganz anderes Bild gemacht hatte; wir fanden in Statur, Augen, Bewegung viel Aehnlichkeit mit Gottlieb. Zu Mittags aßen wir in dem Sommerhause, welches sich die kleine Tholuck reizend eingerichtet hat; als Gäste waren noch anwesend Herr Tauchnitz, der recht das Ansehen eines Stillen im Lande, um nicht zu sagen, Mucker8, hat, und Oberpostdirektor Göschel, ein lieber Mann, in seiner Persönlichkeit viel einfacher, natürlicher, als der Berliner Göschel, den man übrigens aber als seinen Bruder ohne den Namen zu nennen erkennen kann. Nach Tisch machten wir einen schöne Ausfahrt nach Giebichenstein; ich hatte eine so freundliche Umgebung bei Halle nicht erwartet. In einem schönen öffentlichen Garten trafen wir mit mehreren Freunden Tholucks, auch Leo 9 Engländer ()10 und ein Herr Assessor von Berlin aus dem Geistlichen Ministerium zusammen. Ich erstaunte über die Welt von politischen und kirchlichen Vorstellungen, in welchen diese Menschen leben. Damit konnte ich mich nicht gut befreunden und nachdem ich einige Mal sehr abgefahren war, schwieg ich still.

Am Montag11 Morgen fuhr ich mit der Mutter ab; ich begleitete sie bis Coethen und blieb bei ihr bis zur Abfahrt nach Berlin: in ihrem Coupe saß auch Professor Goeschen aus Berlin, welcher schon wieder von Pforta zurückkehrte.

Ich bin überhäuft mit Arbeiten und weiß nicht, wie ich durchkomme; ich hoffe auf baldige Erleichterung. Maclean ist nach Berlin gereist, wo sich seine Familie noch aufhält, weil sein kleiner Lauchlan, ein prächtiger Junge von 2 Jahren schwer erkrankt ist; es würde ein sehr harter Schlag sein, wenn sie ihn verlieren sollten. –

Grüße Wunderlich und die anderen Freunde; wir werden uns nun in der Regel durch die Ver- mittlung der Mutter schreiben. – Lebe recht wohl, lieber Karl,

Dein Bruder Immanuel