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Maria Helena Susanna Hegel, geb. Tucher, an Karl Hegel, Berlin, 31. Mai 1843

Lieber Karl!

Ich bin seit 8 Tagen, d. h. seit Montag den 22ten Mai Hier – Du weißt es durch Manuel, der mich Sonabend1 Mittag, eine Stunde nach meiner Ankunft in Halle bei Tholuks, mit seinem Wiedersehen überraschte – Er versprach mir gleich an Dich zu schreiben, wie er mich gefunden hat – was er besser sagen kann als ich selbst – Wir haben in Halle, über Sonntag (bis sich Montags früh unsere Wege auf der Eisenbahn trennten) mündlich, uns wieder miteinander über alles Erlebte ausgesprochen – Ich wollte es würde mir auch mit Dir, lieber Karl, wieder einmahl so wohl – das Schreiben ist doch ein gar dürftiger Nothbehelf – Es war mir bei meiner Ankunft ganz weh ums Herz, bei dem Gedanken, daß ich nur ein leres Haus finde – getrennt von all den Meinen – doch kam eine treue Seele mir mit Freudenthränen entgegen, meine gute Luise – und in meiner Wohnung war die liebe Klitzing – Auch die Freude der Schwestern im Kranken Haus, Goßners und sonstiger alter Freunde, Pinders, Göschels, 2, Bopps3 mich wiederzusehen, bezeugte mir, daß ich hier auch einer Familie angehöre die mich lieb hat und die mich ungern vermißt hat – Jedes begrüßt mich mit dem Zuruf, wie wohl ich aussehe – Gott erhalte mir dieses Wohlsein, ohne das ich doch nur ein unnützes Glied bin – die Liebe ohne Frucht und That, ist nur ein dünnes Reis – doch nehmen die lieben Geschwister auch mit dem was ich ihnen in kranken Tagen seyn konnte, vorlieb. Die Trennung von ihnen wurde mir sehr schwer – Es ging in der letzten Zeit von einem Abschied zum Andern – Erst in München – Laura, der alte Niethammer, die liebe Honigman bei der ich wohnte und an der ich eine theure Freundin fand – Auch von den Schwestern im Kranken Haus in München, die mich wie eine Schwester liebten, wurde mir die Trennung schwer – Ich möchte es um keinen Preis missen, dort gewesen zu seyn – ich habe viel von ihnen gelernt, könnte ich nur alles Nachahmenswerthe in unserm Kranken Haus gleich einführen. Aber uns Armen, die wir nur von Almosen leben, werden Verbesserungen, die Geld kosten, gar schwer – da die Stadt und der König so gar nichts für uns thut – Ich muß mich deshalb selbst aufs bitten legen und dem König und Prinzeß Wilhelm, zu der ich in diesen Tagen muß – meine Noth klagen – Ich war auch in München bei der kleinen Kronprinzeß mit Schubert, sie wünschte mich zu sehen und trug mir Grüße an ihre Mutter und Goßner auf – die letzten Tage in München war ich in Niethammers Hause – den 1ten Mai war 4 Hochzeit am Starnberger See – was ich ja wohl schon geschrieben habe – Ich sah noch die alten Freunde Schubert, 5, Försters – Auch noch den Neubau von Schloß und Kirchen – War aber doch froh, daß ich mich dem gesellschaftlichen Getriebe bald wieder entziehen durfte – Ich bin nicht mehr dafür – es ermüdet mich nichts mehr als Gesellschaft – In Augsburg hielt ich mich 1 ½ Tage bei Decan Bomhardt auf – Er ist ein Schwager von Julius, den ich bei Niethammer kennen lernte und dem ich versprechen mußte, bei ihm zu wohnen und zu verweilen – Es wollten 2 Augsburger Mädchen mit in unser Kranken Haus – Drei Münchnerinnen, eine Nürnbergerin hatten sich auch schon bei mir gemeldet – Aber da wir in der Nähe haben, was wir bedürfen, nahm ich Anstand gleich zu willfahren und vertröstete sie auf die Zeit wo wir mit reichern Mitteln, mehr Schwestern annehmen könnten. Bomhardt ist ein trefflicher Mann, ein ausgezeigneter Geistlicher, dessen Bekanntschaft mir recht werth ist – Von Augsburg ging es nach Donauwörth wo mich Wilhelm auffing – da war ich dann wieder bis Montag den 8ten Mai in Leitheim bei meiner lieben süßen Frida – und wie ich mich dort mit Schmerz trennte, gings nach Nürnberg, wo mich Benoit schon erwartete um mich nach Henfenfeld zu entführen – Dort wieder zwei Tage – Ich kam von einem Frühlings Garten in den andern, Leitheim war so wie die ganze Hügel Reihe am linken Donau Ufer ein Blüthenberg – die Kirschbäume waren eben am Abblühen und die Birnen und Aepfel im täglich schöneren Aufblühen – eben solche Blüthenpracht war in Henfenfeld – Auch Siegmunds Garten an dem ich mich im Winter erquickt, war im jungen Frühlings Grün und blühenden Flieder und Buschwerk um so lieblicher – hier sitzen Gottliebs6 und Siegmunds7 und 8 (die Siegmund auch im Garten mit wohnen läßt) und Sophie mit ihren Kinder- chen beisammen und bringen den größten Theil des Tages in Ferien zu – Da waren wir denn wieder einmahl alle in einem Nest beisammen – Ein seltenes Glück daß Geschwister in solcher Liebe und Eintracht in einem Hause beisammen wohnen – Oft dacht ich „mußt Du denn fort?“ Gibt es ja doch auch in Nürnberg Kranke – Aber das war nur eine Versuchung – ich gehöre nun einmahl hieher und will dem hiesigen Kranken Haus, bis eine Tüchtigere mich ablöst, dienen an Goßners Schule! – Goßner hab ich in Nürnberg doch sehr vermißt – Ich habe nun noch eine treffliche Seele zur Gehilfin, eine verwitwete Prediger Sibel aus Luckenwalde, einige 30 Jahr alt, sie soll Dir ähnlich sehen, wie eine Schwester, findet die Klitzing – Prediger Liebetrut hat die Biographie ihres Mannes herausgegeben9 – daher dieses trefflichen Ehepaars Leben und Wirken nicht im verborgenen blieb – Sie glaubte ihm nachzufolgen und gab ihres Mannes Papiere Liebetrut – aber sie sollte noch, wohl zum Segen für unser Kranken Haus leben bleiben – Sie ist zwar schwächlich, aber eine Frau von seltener geistiger Kraft – richtigen Takt – voll Sanftmuth und Liebe – Wenn wir uns Frida mit der Tham zusammen schmelzen, 10 wir doch wohl so viel wie Eine – so Eine, wie sie Goßner haben will –  –  Sie wohnt in der kleinen Seiten Wohnung im Kranken Haus. Eine von uns dreien muß immer im Hause seyn – da fällt es keiner zu schwer – Sie zog an einem Tag mit mir ein, und wird mir täglich lieber und unentbehrlicher –

Von den Freunden hier hab ich Marheinekens Gablers, Hennings und Göschels und Bopps gesehen. Der Philosophische Verein ist jetzt auf 25 Mitglieder angewachsen u. a. der Polizei President Puttkammer, der Schulrath Schulze. Es sey eine wachsende Theilnahme dafür – Mischelet wird fort und fort geschlagen – Gabler sagte mir, es zeige sich daß er Hegel gar nicht verstanden hat – So, citierte er aus Göschels Aphorismen11 einen Satz, aus dem er, durch eine Umstellung der Worte gerathe12 das Gegentheil beweisen wollte – er legte sie Hegel in den Mund, Hegel aber hatte sie nur – als Beleg ins Gegentheil citirt – Mit dieser Geschichte und andern hat er sich sehr compromitiert – Henning gilt für einen Überläufer – das ist mir leid – Er sucht eine Stelle im Ministerium – liest diesen Sommer nicht – ist viel bei Eichhorn – Ich dächte er könnte Eichhorn über Hegel in einen andern Sinn referiren als seine Gegner – und trau ihm doch diese Ehrlichkeit zu –

Göschel hat Dein Programm über Dante13 in den Jahrbüchern rezensirt14, sagte er mir, mit herzlicher Theilnahme. Ich war gestern Mittags mit Pinders bei ihm –

Beiliegend erhältst Du einen recht erfreulichen Brief15 von Manuel Immanuel – Er sollte zu Deinem Geburtstag16 ankommen und daher erst übermorgen abgeschickt werden, aber lieber heute als morgen. Du wartest ohnehin schon länger als es recht ist, auf einen Brief von der Mutter –

An Deinem Geburtstag sind wir beide im Geiste mit Dir vereint. Gott segne Dich lieber Sohn. Wann werden wir uns denn wiedersehen? An eine Reise kann ich diesen Sommer nicht denken, Du mußt zu mir kommen –

Es ist doch gar lieblich – nun es grün ist, in meiner freundlichen Gartenwohnung – Wer weiß ob unser Manu Immanuel nicht bald hieher kommt – Es geht mit ihm rasch vorwärts – Das Censur Amt und nun die Anstellung bei dem ExaminatsAmt beweist daß man ihm eine große Tüchtigkeit zutraut. Gott gebe ihm dazu die guten und vollkommenen Gaben des reiferen Alters – Geheimrat Eulers sagte zu Professor Göschen auf dem Weg – er wäre einer unserer ausgezeichnetsten jungen Leute,  der Praesident hätte ihn in Vorschlag perge perge – – gebracht – dazu sey er aber zu jung – Er sah mich fragend an „wissen Sie davon?“ So rathen Sie ihm er soll es nicht annehmen17 – darauf bezieht sich was mir Immanuel schreibt –

Morgen reist Mathies mit Luise Bopp nach Hildesheim über Magdeburg. Er hat Montag sein Examen glücklich überstanden18

In Magdeburg will er Luise mit seiner Gegenwart überraschen und dann, was sie noch nicht weiß, mit ihr nach Hildesheim gehen –

Ich war am Sontag vor meiner Abreise den 14ten Mai noch einen Tag in Erlangen, und traf dort bei Döderleins die Großmutter19 der Professor Hoffmann Professor Göschen die sich sehr über meine Bekanntschaft freute – ich wußte nicht warum? und hörte erst nachher von dieser Verwandtschaft –

Wie stehts – Wie geht’s – mit der Schwägerin von der Du mir in Deinem Vorletzten Brief schriebst? Grüße alle lieben Freunde die ich kenne und nicht kenne – Kierulfs, Röpers, Karstens – und Hoffmanns – Wie gehts der lieben Röper und ihren Kindern?

Ich war in Erlangen bei der lieben Kron und Beier geb. Gärtner. Sie leben in großer Beschränkung und placken sich – Franziska erwartet bald ihre Entbindung und ist um 10 Jahr gealtert – doch sagt sie, sie sey glücklich – Ich war auch bei Raumers, die mich kennen zu lernen wünschten – Ich habe viel Liebes auf meiner Wanderschaft erfahren. Nun aber geht es mir bald wie Dir, ich vermisse hier die Herzlichkeit und die Gemüthligkeit – bei den älteren Bekannten in Berlin – doch die Kinder20 im Kranken Haus und die liebe Seele die mir Gott zugeschickt hat, sind warm und innig – und daß muß doch genug seyn – nebenbei auch meine Klitzing und Goßner – Sie kommt so eben zu mir – und grüßt Dich –

Leb wohl theurer Sohn Gott sey mit Dir

Wir sind jeden Abend von 8 – 10 bei unserm lieben Vater Goßner – die Schwestern vom Krankenhaus die da ihre Kranken der Nachtwache übergeben haben, und wir, die wir zum Hause gehören, Thams, 22, die liebe Sibel und ich – da hab ich wohl wieder das Gefühl einer Famielie und einer Gemeinen von Gläubigen anzuhören – Wir singen liebliche Lieder dann liest und erklärt Goßner ein Capitel  und betet uns den Inhalt desselben voll Geist und Lebenskraft ins Herz – – Wie dank ich Gott daß Er mich wieder in diese Schule geführt hat – Wie die Kinder nach dem Abendsegen entlassen sind, bleiben wir noch beisammen und besprechen uns über alles was den Tag über im Haus vorgefallen ist – Ich mußte in der ersten Zeit jeden Abend vom Kranken Haus in München referiren Aber was hilft das Besser Wissen – wenn die Mittel fehlen und das einmahl Bestehende nicht so leicht wieder abzuändern ist – Es sind viele Köpfe und viele Sinne – da hab ich mich zu fügen und darf nicht ungeduldig werden, was mir Gottlob nicht schwer wird – in solcher Gemeinschaft, die zugleich meine Stärke ist. Goßner ist ein Mensch von seltner Energie –

Gestern kam die Rede auf seine Predigt über den Maskenball – er versicherte, er hätte vorher nicht daran gedacht darüber loszuziehen – es war ihm unter der Predigt augenblicklich so gekommen, gegeben worden – nachher wäre es ihm erst eingefallen daß König Wilhelm da war und wär ihm leid gewesen daß er ihn damit so geschlagen, aber es sey ihm doch himmlisch wohl und leicht gewesen nach der Predigt – die Minister Arnim perge perge verlangten man sollte ihn criminel darum bestrafen aber Eichhorn schrieb ihm und besprach sich mit ihm darüber und drohte nur mit dem Finger – worauf er ihm antwortete der Nachtwächter muß schreien und die Leute wecken, wenns brennt – oder soll ichs machen wie der – der wies im Haus des Bürgermeisters brannte, dachte „willst den alten Herrn nicht wecken!“ Wie die Geschichte dem König erzählt wurde, sagte er „laßt mir Goßner zufrieden“ – Aber wunderbar war es doch daß 8 Tage nach dieser Nachtwächter Vertheitigung das Retuten Nest, das Colisium23 niederbrannte – Sage den lieben Professor Röper daß der Nürnberger und Erlanger Missions Verein an der letzten Schrift von Hoffmann in Basel groß Aergerniß genommen, „daß er sich keiner Kirche anschließen wollte“ Es fehlt ihnen nun die Garantie Sie haben das Vertrauen zu Hofmann und der Baseler Mission verloren und sind nun darüber unter sich selbst uneins – Ich mußte in München darüber hören – Es könnte nichts in unserer evangelischen Kirche zu stande kommen ohne Spaltung Zank und Streit.

Leb wohl lieber Sohn –