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Immanuel Hegel an Maria Helena Susanna Hegel, geb. Tucher, und Karl Hegel, Magdeburg, 28. September 1843

Liebe Mutter und Karl!

Eure lieben freundlichen Wünsche sind zwar nicht brieflich an meinem Geburtstag1 eingetroffen; ich war aber doch an diesem Tage ihrer gewiß und die Vergegenwärtigung Eurer theilnehmenden Liebe und Eures Andenkens hat ihn mir in stiller Freude verleben lassen. Wenn nicht andere Sorgen, von denen ich Gott Lob nicht gedrückt bin, so tritt doch an solchem Tage die Unaufhaltsamkeit der Zeit mit eindringlichem Ernst vor das Gewissen, und mahnt die kurze Lebensdauer mit emsigem Bemühen zu nutzen. Wie rasch die Jugendjahre sich entfernen, trat mir in diesen Tagen recht lebhaft vor die Seele, als ich einen Brief von unserem Freunde Deininger empfing, der mich nach langen Jahren wieder begrüßt hat. Ich lege den Brief bei2, bitte ihn mir aber wieder zurückzuschicken. Ihr werdet Euch auch freuen über diese herzliche Erneuerung unseres alten Bündnisses und könnt Euch denken, daß ich ihn alsbald mit einem warmen und langen Brief geantwortet habe. Indem ich ihm meine Lebensgeschichte aus den letzten Jahren erzählen mußte, war ich erstaunt über den Reichthum und die Gunst des Schicksals, welche mich dabei begleitet; es wurde mir aber auch recht klar, wie der Genuß für sich nur den Augenblick ausfüllt, die Früchte der Arbeit, der geistige Erwerb aber allein ein bleibendes Eigenthum werden.

Ihr habt schöne Tage in Warnemünde zugebracht3, und oft freute ich mich bei dem klaren Himmel, den ich fast nur vom Zimmer aus gesehen habe, daß Ihr das heitere Wetter und die sternhellen Abende an der See genießen könnt. Ich kann mir recht denken, wie glücklich und einig Ihr dort zusammengelebt habt. Der lieben Siebel danke ich herzlich für das freundliche Andenken, das sie mir nach unserem kurzen Zusammentreffen geschenkt, und die liebevolle Theilnahme, die sie mir zu meinem Geburtstage ausgesprochen hat. Mir ist es eine recht große Beruhigung, daß Du diese treffliche alte Freundin gefunden hast, welche Dir die Lücke zu ergänzen scheint, die die gute Kölle bisher unersetzt zurückgelassen hatte. Wie konnte ich ihr anders als mit Achtung, Vertrauen und Zuneigung entgegentreten, und wie hätte ich in einem Augenblick, da ihr Gemüth aufs Tiefste bewegt war, gleichgültig bleiben können! ich war dadurch so glücklich, ihr sogleich nahe zu treten und auch mit ihr befreundet zu werden.

Zu Weihnachten hoffe ich, wenn auch nur auf wenige Tage, Dich liebe Mutter in Berlin besuchen zu können, und werde dann wohl auch die Freude haben, Dich, lieber Karl, dort wieder zu sehen. Ein Zusammentreffen in Halle wäre mir ebenfalls sehr erwünscht. Vor 14 Tagen war ich dort, indem ich die Frau Oberpräsidentin auf einer Reise nach Merseburg bis dahin begleitete; fand aber nicht allein Tholucks Haus leer, sondern auch die übrigen Freunde sämtlich verreist. Einen überraschenden Besuch hatte ich inzwischen, indem Christian Schmidt, Bruder unseres Reinhold Schmidt, sich einen Tag auf der Reise nach Hamburg hier aufhielt. Von ihm erfuhr ich, daß Reinhold mit Familie4 bereits in Heidelberg sich niedergelassen hat. Theils das rauhe Klima, theils der Mangel philosophischer Freunde, und auch die Abhängigkeit von dem Leben der übrigen Familie und die damit verbundene Beschränkung in seinen täglichen Gewohnheiten, alles dieses hat ihn von Pernau weggetrieben. Christian ist ein lebhafter kräftiger verständiger Mann; das sanguinische Blut und die leichte Erregbarkeit des Gefühls hat er mit seinem Bruder gemein. Mir ist seine Persönlichkeit ebenso angenehm, als interessant. Doch soll er auch seine kaufmännischen Seiten haben.

An meinem Geburtstage war ich des Abends in dem gemüthlichen Familienkreis von Flottwells; auch machte ich an diesem Tage die interessante Bekannt- schaft des Regierungsraths Reichman, welcher jetzt von Berlin nach Marienwerder versetzt ist, und zum Besuch hierher kam. Er ist ein liebenswerther geistreicher und sehr gebildeter Mann. – Durch Macleans Abgang hat nun mein Leben eine große Veränderung erlitten; ich vermisse ihn täglich. An Gesellschaft fehlt es mir nicht; ich muß im Gegentheil mich dringenden Aufforderungen entziehen, um die nöthige Zeit für meine Arbeiten und andere Beschäftigungen zu erhalten. Außer mit Flottwells verkehre ich am meisten und liebsten mit dem Ober-Regierungs-Rath von Lommer, Regierungs-Rath Honig und Sächsischem Zoll-Bevollmächtigten von Schimpf, und deren Familien; zu diesen gehe ich wohl auch uneingeladen des Abends hin und verkehre gern mit ihnen; doch können sie mir Macleans nicht ersetzen.

Vor einigen Tagen ist endlich auch Kollege Vincke wieder eingelaufen und sein erstes Wort war, daß er bei seinen Freunden und Gönnern, besonders den Grafen Laiken und Rasper von Meding sich angelegenlichst für Deine Wahl zum Archivar verwendet und die besten Hoffnungen habe. Die lange Muße, welche er sich gegönnt, hat doch seine Gesundheit nicht ganz restauriren können.

Auf Beselers Werk5 bin ich sehr gespannt, und werde es mit Begierde lesen. Einen großen Genuß hat mir Böckhs Uebersetzung der Antigone6 verschafft, welche mir ganz ausgezeichnet gefallen hat, und ich fast täglich in die Hand nehme. – Ich bin übrigens ganz wohl, vollkommen zufrieden und deshalb auch heiter und behaglich, wenn auch manches zu wünschen übrig bleibt. – Ich sende diesen Brief nach Berlin, um Dich dort bei der Ankunft zu begrüßen. Grüße Klitzings und Philipp Mathias herzlich. In Rostock Wunderlich, Röper und Karsten. Ist Ackermann nicht zurück. – Lebt wohl Euer Immanuel.