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Maria Helena Susanna Hegel, geb. Tucher, an Karl Hegel, Berlin, 28. Juni 1844

Lieber theurer Sohn!

Dein langes Schweigen macht mir die Besorgniß Du könntest krank seyn – oder verstimmt – oder – man kann sich allerlei Möglichkeiten denken! Du hast ja doch wohl den 7ten Juni meinen und der Magdeburger Geschwister2 Briefe3 und den 8ten mein Geburtstags Praesent4 bekommen? – Darauf konntest Du ohne besondere Ursache nicht schweigen! – Beruhige mich daher, so bald wie möglich – und solltest Du krank seyn, so will ich kommen und Dich pflegen – Gott verhüt es!

Ich komme so eben (gestern Abend) von Magdeburg, weil unsere liebe Friederike seit Sonnabend vor Pfingsten5 an Zahnweh und Migraine und endlich an einem krampfhaft nerveusen Erbrechen, welches tage lang anhält, viel gelitten hat – Manuel durchwachte mit der Mutter die Nächte an ihrem Bette und war der Trost und die Stütze der geängstigten Mutter; täglich kam von Beiden ein Bericht an den Vater, in dem Manuel immer was die Mutter schrieb ergänzte und moterierte und den besorgten Vater und mich beruhigte – da wollte ich doch endlich zu meiner und des Vaters Beruhigung die liebe Kranke selbst besuchen, ging Freitags Morgens hin und blieb bis gestern (Mittwoch) und hab sie Gottlob schmerzensfrei und auf dem besten Weg der Besserung verlassen. So viel sie Schmerzen und schlaflose Nächte gehabt und den rebellischen Magen kasteit hat, so blüht sie doch wie eine Rose und ist nicht magerer geworden; doch ist sie noch so matt daß sie auf dem Sopha liegen muß und ihre Nerven vertragen noch kein lautes Gespräch; – wenn ihre eigne Lebhaftigkeit nicht immer gedämpft wird, so meldet sich gleich wieder Zahn oder Kopfweh und Ermattung. Wohl Alles Folge der tief erschütternden Nerven aufregenden Ereichnisse! Elise leidet in anderer Art an 6 Masern Nerven Übel – Herzklopfen, Brust Beklemmung Mattigkeit, Schlaflosigkeit und Hypogonderie7

Von Haus aus waren sie, wie mir die Mutter versichert, alle gesund und keine hatte eine Ahnung von schwachen Nerven und dergleichen Schwachheit. – Durch meine Anwesenheit machte ich es der Mutter möglich, indeß Clara und den Minister in Berlin, der sie in Wittenberg Abends abholte – (In der 1ten Hälfte Juli wird die Familie hieher ziehen. Deshalb sie das Terin8 besehen sollte) auf einen Tag zu besuchen. Clara der es versprochen war, sie sollte die Mutter sehen, – die sich darum ängstigte, daß sie so lange ausblieb. – Manuel und das kleine Mariechen begleiteten die Mutter nach Leipzig und fanden sie körperlich auffallend geheilt und entwickelt – geistig so, daß sie wohl geordnet redet und keine Spur von Geistes Ver- wirrung an ihr zu merken ist; nur ist sie noch nicht in dem ihr eigenthümlichen Character der Innerlichkeit und Ruhe, sondern in einer erhöhten Lebhaftigkeit und Geschwätzigkeit – deshalb sie auch noch bis zum Herbst in der Anstalt bleiben soll, in der sie sich in diesem Augenblick so wohl geborgen ist9. – Sie hat schöne Zimmer, einen schönen Garten und liebt Dr. Czinigen Frau und die Gesellschaft des Hauses, und ist von Allen eben so herzlich geliebt – Sie verlangte, nach dem sie gehört hatte daß Manuel die Mutter begleitet hat, auch ihn zu sehen und war voll unbefangener herzlicher Freude – und begleitete sie noch bis zum Bahnhoff, wo sie wohl den Wunsch aussprach „ach könnte ich mit!“ aber doch eben so ruhig die Nothwendigkeit einsah, daß sie erst völlig wiederhergestellt seyn müßte. Die Unruhe der Mutter und des elterlichen Hauses, wäre auch nicht gut für sie, so lange sie noch geschont werden muß – Mich beengt diese Unruhe – dieser Kleinmuth! Die rechte Basis des Glaubens fehlt! Die Kinder ängstigt die Unruhe und ängstliche Sorge der Mutter. Manuel hat dafür bis jetzt noch viel Liebe und unermüdliche Gedult und zarte Schonung, liebkost und besänftigt, beredet sie zu essen, sich anzuziehen und daß sie sich zu Bette legt, indeß er an Friederikens Bette die Stelle der Mutter vertritt – Dieser Sohn ohne Gleichen ist aber auch Vater und Mutter so theuer daß sie sehnlicher, als ich es wünschen kann, seine Versetzung hieher wünschen – wie mir gestern Abend der Vater, nach meiner Zurückkunft, sagte – Die Aussichten und Hoffnungen die er in betto10 für ihn hat, so Gott will, bald erfüllt werden sollen (doch dieß bleibt unter uns ich glaube Manuel weiß noch nichts davon) – Unser Zusammenleben könnte dann wohl, wenn es einmahl ausgestürmt hat, ein recht glückliches seyn. Gott helfe mir dann nur auch dazu, daß ich die verschiedensten Anforderungen und Pflichten vereinen lerne. – Es zieht mich in die Welt zurück – indeß die Stille des Kranken Hauses und die Gemeinschaft gläubiger Seelen mir gibt, was mir die ganze Welt nicht geben kann –.

So weit schrieb ich gestern und heute erhalte ich Deinen lieben lieben Brief11! Gottlob daß meine Besorgnisse über Dein Schweigen nun so beruhigt, so erquickt, sich in Lob und Dank endet – das waren ja liebe Unterbrechungen und Abhaltungen! – Welch ein Leben regt sich bei Euch! Ich möchte Mallat gehört haben! Doch noch lieber ist es mir daß Du ihn gehört hast –

Auf Deine herzlich gemeinte Strafpredigt kann ich nur sagen „Gott helfe mir!“ Ich will ja nicht eigensinnig durchsetzen und erzwingen wo mir die Kraft fehlt – Wir wünschen ja sehnlichst eine andere tüchtigere Hausmutter zu finden und wollen ihr nebst freier Wohnung, wenn sie keine eigenen Mittel hat, einen Gehalt geben – Aber wo sollten wir sie suchen – Gott muß sie uns schicken –.

Daß ich aber der Sache getreu bleibe, ist mir eine Herzens und Gewissens Sache. Ich habe jetzt an einer Schwester von Bern eine verständige liebe praktische Frau, die Goßner sehr lieb hat, und deren Mann einer unserer Curatoren ist, eine liebe Gehilfin – sie kommt jeden Nachmittag – so bin ich nur Vormittag obligat und strenge mich da warlich nicht über meine Kräfte an – Die gute Sybel hat sich durch ihre Verstimmung, ihre ängstliche 12 und lange Verhandlungen, wo der praktische Sinn stillschweigend zugereicht, sehr erschwert – keine Organisation meint es leichter – und hat eine unversiegbare Liebe und Freudigkeit dazu – Ich hatte in Magdeburg Heimweh nach meinem Kranken Haus und nach dem geistlichen Athem.

Laßt mir mein Kranken Haus! Ich bin schmahl aussehend und stärker geworden – Frühstücke Morgens nach dem ich meine Milch getrunken und meine kalte Wäsche und 13 beendigt, in dem Garten – gehe um 9 Uhr hinüber – und bleibe bis 1 Uhr. Da hab ich in Garten, Küche, Speisekammer nachzusehen, mache die Tour durch die Kranken Säle – regle mit der Sybel –  die jetzt in der letzten Zeit, ohnehin meint, es läge alles auf ihr und unser Daseyn wäre nur ein überflüssiges, weil man ihr nichts zutraut – O das menschliche Herz ist ein betrügliches Ding! voll Eigenliebe. An Andern perlenweis, nur an uns selbst nicht. Ich richte im Andern mich selbst und will keinen verklagen. Sie reist in diesen Tagen nach Luckenwalde und dann nach Heringsdorf. Der gute Ober Amt Mann Karbe hat sie gebeten die Kosten der Badehäuser für sie übernehmen zu dürfen.

Sie hat ein Quartier beim Karlsbaad – Hat sich über Deine lieben Zeilen gefreut und dankt Dir herzlich – Wir lesen mit freudiger Rührung Deinen Brief! und will bei mir und im Kranken Haus logiren.

Die Gallitzin war 8 Tage im Rheinschen Hoff und reiste Montags vor 8 Tagen von hier noch einmahl nach Hanover. Nach beiliegendem Briefchen14 war sie noch den 18. in Leipzig – und will in Nürnberg die Meinen besuchen –

Ich schreibe in Flottwells Häuschen – das stille Plätzchen ist mir in der Nachmittags Stunde ein recht wonniglicher Aufenthalt. Du siehst, daß es mir an Ruhe Stunden und Erquickung nicht fehlt – sorge Dich daher nicht um mich – Du liebe treue Seele! Gott wird mich um des Kranken Hauses willen nicht früher abrufen – Glaube nur, daß was Er uns thun heißet, dazu gibt er auch Kraft. Was könnte ich lieberes und besseres thun! Wie arm wäre mein Leben. Dürfte meine Liebe nicht thätig seyn – Euch soll darum kein Abbruch geschehen! Ihr lieben lieben Söhne! Gott sey mit Dir15