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Maria Helena Susanna Hegel, geb. Tucher, an Karl Hegel, Berlin, 26. August 1844

Ich habe täglich auf einen Brief von Dir aus Warnemünde gehofft und habe bei meiner Rückkehr von einer Spazierfahrt nach Pankow und Schönhausen  Sonnabend den Ersehnten vorgefunden – Du siehst daß ich mich schon wieder in die Welt hinaus wage; aber ein Ausflug nach Warnemünde wäre mir doch noch zu weit, so reizend es wäre, und so wohl wir dort in Deiner Nähe und in dem Stillleben, wie ich es vor 2 Jahren gehabt, seyn könnten.

Es gibt hier mancherlei Versuchungen – wie Du durch Friederikchen weißt – machten wir z. B. den Vorschlag, daß die von den Leiden unseparable3 Mutter Flottwell mit 3 Töchtern4 und Mariechen in Abwesenheit des Vaters zu mir herausgehen sollte – Meine 5 Piecen sollte Jede ein Schlafzimmer, der Salon das Wohnzimmer, die Mutter wollte Wirthin und ich sollte ihr Pflegling seyn – Der liebe Vater schied noch mit dem Dank und der Beruhigung und glaubte an die Ausführbarkeit, da ich selbst mit solcher Leichtigkeit und Heiterkeit darauf einging; – da mir die Aufgabe, Clara und Elise eben so Friederike und die Mutter besonders an mein Herz zu nehmen, so lieb war – Aber ich vergaß freilich darüber wieder, wie mich die Unruhe eines so nahen ununterbrochenen Zusammenseyns angreifen würde – Dieß haben wir insgesamt hinten nach bedacht und eh ein Brandbrief von Manuel kam der Critissimo seine Vorstellungen dagegen machte ankam war er schon aufgegeben. Nun wohnt nur Clärchen bei mir, Friederike kommt bei schönem Wetter morgen zum Brunnen trinken, fährt um 11 Uhr nach Hause und Nachmittags kommt die Mutter mit ihr und den Andern wieder – wenn schön Wetter ist und nichts Anderes dazwischen kommt – So bin ich um Gervinus meinen Gegen Besuch zu machen Sonnabend mit Elise und Friederike hereingefahren, habe bei der Mutter gegessen und ließ mich verführen mit ihnen nach Schönhausen zu fahren, das der Mutter die in ihrer Jugend dort lebte so lieb ist – Die Heimfahrt am Abend von einem Ende der Stadt zum andern hat mich aber doch sehr ermüdet – Ich darf noch keine Excesse machen auf die ich eben dadurch verfalle daß mir das Kranken Haus verbothen ist – Nun schickt mir Gott kranke Cousinchen ins Haus – Clara ist mir ein lieber Gast. Ein stilles inniges Gemüth, das der Ruhe und Ermuthigung bedarf – Sie kann die Unruhe im elterlichen Haus noch nicht ertragen, sie war durch die vielen Menschen die sie sehen mußte – der Vater führte sie z. B. ins Theater, in die Ausstellung – wieder sehr angegriffen und fühlte sich am wohlsten wenn sie bei mir allein war – Ich denke der Aufenthalt bei mir wird für sie ein Übergang von dem was sie bisher zu ihrer Erholung bedurfte ins Elterliche Haus seyn – ich kann vielleicht zu ihrer Beruhigung und inneren Stärkung mein Glaubens Schärflein beitragen – sie hungert und dürstet und verzagt an sich selbst und ist doch so empfänglich und verlangend – Gott wolle mir das mas zu ihrem Frieden damit für sie schenken.

Elise drükt der Schuh an anderm Ort – ich bin nun auch ihre Vertraute, wenn sie mich allein fassen kann – Wenn die Mutter da ist führt ihre Lebhaftigkeit und die 5 das Wort und die Mädchen schweigen – Wohl würde mich ein 4 Wochendliches Zusammenseyn mit Allen jetzt noch zu sehr ermüden – so aber hab ich doch noch eine Zeit des Tages die Ruhe die aber so Clara wie mir nöthig ist –

Sie zeichnet jetzt Vaters Basrelief6 – spielt – liest und geht so viel es das Wetter erlaubt im Garten – An der Mutter Geburtstag7 war ich zum erstenmahl dort und von allen mit herzlicher Liebe und Freude bewillkommt – Unser Manu war Tags vorher angekommen – Friederike erwartete ihn bei mir – An der Mutter Geburtstag bekam er das Schreiben, daß er auf den Wunsch des Herrn Presidenten von Rönne als Hülfs Arbeiter bei dem Handels Amt (wozu er sich bereit erklärt) den 1. September eintreten sollte – Mann behalte sich vor über die Remuneration das Weitere zu verfügen – Der liebe Vater hätte ihn unter solchen Bedingungen lieber in Magdeburg bei der Regierung gelassen – aber nun stellte sich unserm Immanuel die Vielseitigkeit des Handels Amts ins schönste Licht – und seine eigene Entscheidung dafür war Flottwells und mir doch eine große Freude – Er hat sein Arbeits Local hinter der Katholischen KircheMacLeain hat 2500 Thaler – richtet alles aufs Schönste ein, grün beschlagene Arbeitstische – alles aufs comfortabelste – Nun hab ich erst meinen Manu bei mir so bin ich geborgen – Er aber hat seine Aufgabe als Flottwells und seiner Mutter Sohn – Wir wollten ihm indeß seine Wohnung bei mir vergeben oder zur Klitzing ausquatiren – die indeß von Swinemünde das ihr und den Mädchen recht gut gethan hat angekommen ist – Göschel, der bei seiner Frau in Häringsdorf war, war auch bei mir und läßt Dich grüßen –

Soviel von mir – Was Du mir von Kupsch schreibst hat mich als ein Aergerniß das denen gegeben wird, dem mit Recht den Glauben an seinen Früchten erkennen wollen8 und ohne Glauben Früchte eigener Gerechtigkeit bringen wollen, doppelt betrübt – Sein Glaube wird ihn nicht rechtfertigen, wenn er nicht 9 und Weg sieht, der sehe, daß er nicht falle! – War seine schöne Frömmigkeit nur Lippenwerk und Heuchelei oder die erste Liebe von der er gefallen? – Weiß Gott! Vielleicht macht es die Welt und die Eifersucht der armen Frau noch ärger als es ist. – Ich kann mirs kaum möglich denken und mögte ihn doch nicht so ganz fallen lassen – – Daß er Dir meine und Uhr (und das Bild von Neander dessen Du nicht erwähnst) so lang vorenthalten muß ich ihm auch verzeihen, so wie Gott mir dergleichen Aufschub und Wartens vergeben muß.

Daß es Dir mein lieber Herzens Junge so wohl in Warnemünde geht und ein Umgang mit Deinem Freund Beseler so wohl wird ist mir der erfreulichste Inhalt Deines Briefs – Auch daß Du meinem lieben Frl. Malzahn und Frl. Senft nicht aus dem Weg gehst und denkst sie mit der Mutter – Könnten wir uns nur zusammen und Eins dem Andern was abgeben – Beseler weiß wie viel Verstand er hat und seine Überlegenheit – das fürcht ich im Christlichen Sinne – Gott helfe uns Allen. Schreibe bald wieder, Du Lieber! Deine getreue Mutter