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Immanuel Hegel an Karl Hegel, Berlin, 27. November 1844

Lieber Karl!

Meinen letzten Brief1 schrieb ich Dir, glaube ich, unmittelbar vor meiner Reise nach Bremen und Hamburg. Ich habe daher viel nachzuholen, wenn ich Dir einen Bericht von unseren Erlebnissen in den letzten vier Wochen erstatten soll. Im Ganzen war viel Unruhe und auch manche Sorge. Die Mutter fühlte sich bei dem schlimmen Novemberwetter recht angegriffen, und hatte viel von den nervösen Wallungen und Rheumatismus in allen Gliedern zu leiden. Doch hat sie sich in der letzten Woche sichtlich erholt; sie schläft wieder besser, ist frischer, muthiger und kann mehr prästiren2. Doch wagt sie es noch nicht auszugehen und vom Krankenhaus ist keine Rede. An Unterhaltung fehlt es ihr dabei nicht, wenn auch etwas andere Genre als Krankenhaus; Friederike und Elise kommen fast einen Tag um den andern heraus, und von Studiosus Georg läßt sie sich Studentenlieder vorsingen. Dieser ist ein Prachtjunge, eine frische blühende kräftige Natur, immer fidel; der Himmel hängt ihm noch voller Geigen; er lebt in der glücklichen Periode, wo noch alles voller Ideen und Alles begeistert. Dabei ist er sehr liebenswürdig durch seine Gutmüthigkeit, Anspruchslosigkeit und Offenheit. Im Haushalt macht er der Mutter keine Beschwerde. Zum Glück haben wir jetzt endlich eine ordentliche Magd, von welcher das Hauswesen ziemlich gut bestellt wird. – Georg ist meist Mittags in der Stadt und ich bin gewöhnlich Abends bei Flottwells. Daß der Vater nach dem Rhein gereist ist und dort viele Festlichkeiten durchgemacht hat, wirst Du in der Zeitung gelesen haben; er schreibt sehr befriedigt von der Reise, und von der Regsamkeit, Intelligenz, Kultur und dem Selbstgefühl der Rheinländer3  ganz begeistert; er scheint sich sehr gut mit ihnen verständigt zu haben. Morgen Abend wird er zurückkommen: Im Uebrigen ist alles ganz wohl bei Flottwells; sie lassen Dich alle recht herzlich grüßen und besonders Schwester Friederike bittet Dich dringend, doch ja zu Weihnachten herzukommen, damit keiner fehle. Sie bedauert sehr an Deiner Damenvorlesung4 nicht Theil nehmen zu können, um welche sie die Rostocker Damen sehr beneidet. Wir hoffen, daß Du uns ausführlich über den Fortgang derselben berichten wirst.

Auf der letzten Reise bin ich 17 Tage fort gewesen; wir – nemlich Rönne und ich – fuhren in einem Tage bis Hannover und am folgenden nach Bremen; unsere Absicht war vorzüglich die Handelsverhältnisse dieser Stadt kennen zu lernen, mit Rücksicht auf die erwartete Ankunft eines brasilianischen Gesandten über den Verkehr Deutschlands mit Brasilien in Bremen und Hamburg genaue Nachricht einzuziehen, und uns über die engere Verknüpfung der Handelsstädte mit dem Zollverein – jedoch ohne amtlichen Zweck – zu besprechen. – Die Zustände in Bremen haben uns einen sehr günstigen Eindruck gemacht; nicht die Wichtigkeit, der Umfang und die Macht, wie in Hamburg, aber viel mehr Unternehmungsgeist, Produktivität, deutsch bürgerlicher Sinn und umsichtiger klarer Verstand, als hier, wo viel Ostentation, Dünkel, fremde Manieren und Schlendrian herrscht. Ein geistreicher sehr kluger Mann, der alte Bürgermeiser Smidt, 71 Jahr alt, ist die Seele der Verwaltung. Wir blieben 9 Tage, wurden viel hofirt, täglich auf einem opulenten Diner. Rönne hat dort viele Freunde und ist geehrt wegen der Verdienste, welche er sich in Amerika um die Interessen der Hansestädte erworben hat5; daher gaben ihm die Aeltermänner Bremens auf dem Schütting ein großes Fest. Die Stimmung für den Zollverein ist in Bremen recht günstig; doch können sie nicht wohl ohne Hannover Schritte thun. Wir fuhren über Harburg, wo wir übernachteten, nach Hamburg und blieben für 6 Tage. Die Hamburger wunderten sich über unsern langen Aufenthalt in Bremen, welches sie gern geringschätzig ansehen, und zeigten sich deshalb ebenso eifersüchtig, als beunruhigt. Wir fanden übrigens auch hier die Stimmung sehr verändert und unter den jüngeren Kaufleuten nimmt die Neigung zum Anschluß an den Zollverein sehr zu. Die Alten wollen wenigstens mit diesem einen Handelbund schließen. Sie sehen von allen Seiten drohende Gewitter über ihr Haupt heraufziehen und fangen an, an Rettung zu denken. Harburg mit der Eisenbahn, Bremen mit der Eisenbahn, Altona und Kiel mit ihrer Eisenbahn, ebenso das neue Projekt6 von Glückstadt; die Konkurrenz Stettins, der Belgische Vertrag7 etc. Alles dies macht sie stutzig. – Ich lernte auch interessante Männer kennen, den Syndikus Sieveking, Syndikus Bancks, Herren Jenisch, Lappenberg, Kirchenpauer, Soetbeer etc., außer meinen alten Bekannten; mehrere Diners bei Heinlein, Sieveking, Jenisch. Wichern, welcher uns in Berlin eben vor meiner Abreise besucht hatte, war noch nicht zurückgekehrt; er will im Sommer wieder nach Berlin kommen und hofft, daß unser König ihn in Stand setzen werde, seiner Anstalt eine erweiterte Bestimmung zu geben; er hatte schon das letztemal eine Audienz beim König, ich selbst sprach ihn nur sehr flüchtig. – Interesant ist der Aufbau der Stadt Hamburg, wir konnten ihm aber nicht viel Aufmerksamkeit widmen. – Ueber Harburg und Hannover kehrten wir zurück. Hier lebe ich noch immer in vieler Unruhe; eine Menge Besuche, Besorgungen etc. geben viel Zerstreuung; am meisten treibe ich jetzt englisch. – Professor Franz ist wohl und befriedigt von den Resultaten der Reise zurückgekehrt. Mit Duncker hatte ich eine erregte Explikation und er hat für die 2te Auflage des Isten Bandes8 nur 1000 Exemplare angeblich gedruckt und sich vorbehalten wollen, später nach Belieben 500 Exemplare ohne Honorar drucken zu dürfen; hiergegen protestirte ich und er hat sich gefügt. Boumann schreibt langsam vorwärts; 75 Bogen sind gedruckt9; ebensoviel von der Encyklopädie – Deine Activa betragen hier 66 kr 8 Sgr  6 pf10; Deine Zettel habe ich zur Bibliothek geschickt.

Mit Marheineke ists beim Alten. – Onkel Gottlieb, welcher sehr thätig war bei der Ansbachschen Synode11, hat uns mehrere Exemplare der gedruckten Beschwerden geschickt zur Verbreitung; sehr kräftig und klar geschrieben. – Wie steht es mit Deiner Arbeit?

Sie wird Dir wohl unter der Hand immer weiter und umfassender?12 – Grüße die Freunde herzlich und was macht Ackermann?

Nun lebe wohl und mit herzlicher Liebe

Dein Immanuel.