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Immanuel Hegel an Karl Hegel, Colbergermünde, 27. Juli 1845

Lieber Karl!

Gestern erhielten wir zu unserer großen Freude einen Brief von der lieben Mutter, welcher zugleich für Dich bestimmt ist, und wir Dir daher ungesäumt zusenden. Uns geht es hier in Colberg sehr gut; wie führen hier ein bummelndes Phäaken Leben, wie es Dir und mir schon von Warnemünde her bekannt ist; die Colberger Münde hat mir einen überaus freundlichen und angenehmen Eindruck gemacht, und meine Erwartungen sehr übertroffen; es ist noch ländlicher, stiller und durch grüne Umgebungen, mit schönen Waldungen, erfreulicher Anlagen und fruchtbaren Feldern mannigfaltiger als die Umgegend von Warnemünde. – (Aha!!)1 – (Du kannst den Grad meiner Seebad-Faulheit daraus erkennen, daß ich mir nicht einmal die Mühe gebe, Dir selbst zu schreiben, sondern mich dazu der Schreibfertigkeit meiner Frau bediene, welcher ich obige Zeilen in die Feder diktiert habe; nach dieser Note fahre ich fort im Text) – Colbergermünde liegt unmittelbar hinter den Dünen am Meeresstrande bei der Mündung der Persante, welche zwischen Moolen in die See ge- führt zugleich den Hafen für die übrigens geringfügige Schiffahrt von Colberg bildet. Von den Häusern aus kann man nicht die See, wie bei Warnemünde übersehen, sie ist durch die Dünen verdeckt. Dafür ist der Gegensatz zwischen dem Strande des Meeres und dem Orte selbst überraschend und wohlthuend, welcher den Charakter eines mitten im Lande freundlichen Dorfes trägt: niedliche saubere Häuser nebeneinander mit Gärten und zwischen Bäumen; auf der anderen Seite der Persante ist eine prächtige Waldung mit den herrlichsten Buchen und Eichen, wo man auf mehreren Punkten die schönsten Aussichten auf das Meer gewinnt. –

Am Sonntag2 reisten wir von Berlin ab, hatten eine sehr angenehme Reise sowohl auf der Eisenbahn, als auf der Post von Stettin aus, wo wir uns nur 1 ½ Stunden aufhielten; wir fuhren bis Cörlin in der Beichaise zuerst mit einem gebildeten Gutsbesitzer und dessen Frau, und auf den beiden letzten Stationen ganz allein, wie in der besten Extrapostchaise. In Cörlin schliefen wir einige Stunden und fuhren dann am Morgen in dem Flottwellschen Wagen nach Colberg, wo wir nach 9 Uhr eintrafen. Das schönste Reisewetter hatte uns begünstigt und ist uns bis jetzt treu geblieben; erst heute hat sich der Himmel etwas überzogen und fängt es zu regnen an.

Hier fanden wir alle Mitglieder der Flottwellschen Familie sehr heiter und von dem  Aufenthalt äußerst befriedigt; außerdem wohnen auch Bährs hier, nemlich der Präsident und seine Frau, welche eine Schwester von Flottwell ist; sie ist eine sehr sanfte, liebe und verständige Frau, und er erheitert uns durch seine immerwährende gute Laune. Jede Familie bewohnt ihr eigenes Häuschen: Flottwells am nächsten dem Strande; Bährs ungefähr 100 Schritt davon und wir unmittelbar neben diesen; wir besitzen zwei recht geräumige freundliche Zimmer. Ich bade des Morgens um 7 Uhr mit Onkel Bähr, frühstücke dann allein mit Friederike, und treibe mit ihr englisch oder lese ihr etwas vor. Nach 10 Uhr, nachdem der Vater und Mutter mit den Mädchen vom Bade zurückgekehrt sind, wird bei Flottwells wieder in Partien, Flundern und dergleichen einiges geleistet. Darauf vertheilt sich wieder alles in der Regel bis zum Mittage, welcher fast abwechselnd bei Flottwells oder bei Bährs zugebracht wird. Nach dem Mittagsschläfchen trinkt man Kafee und macht einen Spaziergang, wozu sich die mannigfaltigste Gelegenheit darbietet. Man geht erst wieder auseinander, um zu Bette zu gehen. Das ganze Leben ist sehr behaglich und gemüthlich, und ich bereue es durchaus nicht, hierher auf 14 Tage gegangen zu sein. – Am Mittwoch den 6 sten August Abends werde ich wieder abreisen, komme am Donnerstag Abend in Berlin an und will die Reise schon am Sonnabend nach Nürnberg fortsetzen. – Friederike hat bis jetzt noch nicht in der See gebadet, doch ist sie recht wohl und heiter. Die See ist seit unserer Ankunft fast immer sehr ruhig, mit geringem Wellenschlag; das Bad ist jedoch mir sehr erquicklich. –

Ueber den lieben ausführlichen Brief der guten Mutter wirst Du Dich gewiß ebenso erfreuen, wie wir uns; wir wollen hoffen, daß sie der Aufenthalt recht stärke und bekräftigt. In einer Nachschrift bemerkt sie, daß sie die ersten Wochen in Henfenfeld ruhig bei Tante Luise bleiben werde und weist uns an, unsere Briefe nur an Siegmund in Nürnberg zu adressiren. Wir werden ihr in diesen Tagen von hier und später von Berlin schreiben; unsere Ankunft in Nürnberg setze ich auf den 16 ten oder 17ten August an; früher wird es nicht sein können. –

Flottwells grüßen Dich herzlich; ebenso auch Friederike, welche Dir noch sagen läßt, daß Du recht vernünftig sein und doch ja nach Nürnberg, um die Mutter abzuholen, gehen möchtest. – Ist der Onkel nicht 3, welcher die Briefe von Siegmunds Kindern 3 Tage lang in der Tasche behält? – Lebe wohl, lieber Karl, Dein Bruder Immanuel