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Karl Hegel an Immanuel Hegel und Friederike Hegel, geb. Flottwell, Rostock, 14. September 1845

Theuerstes Ehepaar!

Es ist recht dankenswerth, daß Ihr durch Eure ausführliche Reisebeschreibung und anziehende liebevolle Schilderung des Nürnberger Familienkreises2 meinen in Büchern eingehauseten und über dunkle, höchst schwierige Parthien der menschlichen Entwicklung brütenden Sinn mich davon abgezogen und zerstreut habt. Das Menschenleben ist sehr kurz und die menschliche Geschichte so groß, daß sie in jener Kürze kaum mehr zu umspannen ist. Mir erscheint die Aufgabe je mehr ich mich darum bemühe nur größer und unerreichbarer, und doch läßt sich das Bestreben dahin nicht abmachen, am wenigsten für den, der sich jenes als Lebensberuf gewählt hat. Nur fühlt man immer mehr das Bedürfniß, sich das Ziel näher zu rücken und mit der Vergangenheit und aus ihr zur Gegenwart zu gelangen. Darum ist es gut, wenn man häufig an das Gute und Schöne, welches diese bietet und was man zu nuzen immer zu oft versäumt, erinnert wird. Von der andern Seite muß man aber auch für den Zweck, den man sich vorgesetzt hat, Opfer zu bringen wissen: ohne solche hat kein Mensch Etwas, das einen allgemeinen Werth und einige Dauer hätte, erreicht; ich würde mein Leben aber für zwecklos achten, wenn ich es nicht dahin brächte; darum lasse ich mich durch jene Erinnerungen nicht viel stören und da ich meinen Zweck meist fest im Auge behalte, so kosten mich auch die dafür gebrachten Opfer nicht viel und ich habe mich ihrer in keiner Weise zu rühmen.

Doch ich merke zur rechten Zeit, daß ich so nicht fortfahren darf, Friederikchen lacht mich schon aus über meine Ernsthaftigkeit; ich kenne Dich Schelm! Wie schön muß es in Nürnberg, Henfenfeld, Simmelsdorf unter den liebenswürdigen und prächtigen Menschen, die da versammelt waren, gewesen sein! Ich danke Euch, daß Ihr auch meiner dort gedacht habt – es ist mir durch Eure Erzählung Alles recht lebendig geworden! Wohl hätte ich gern die treffliche Tante Rosenhayn, die Euer Herz so sehr gewonnen hat und die andern bekannten und unbekannten Tanten und Basen, Oheime und Vetterschaften wieder begrüßt! Du gehörst uns nun doch noch mehr an, Friederikchen, wie dann Du Dich in diese Verwandtschaft eingelebt hast – und Du hast es mit so viel Liebe und warmem Herzen gethan! – und auch ein Theil dieses Ganzen geworden bist.

Meine Tage sind hier ziemlich schnell, weil einförmig, abgelaufen; mitunter, besonders in der ersten Zeit, bin ich Nachmittags nach Warnemünde gefahren, wo die meisten meiner Freunde waren. Wir hatten viel schlechtes Wetter; auch gerade zu der Zeit, wo Ihr die Reise von Berlin nach Nürnberg machtet, weshalb ich Euer Geschick damals viel beklagt habe. Mir kam dies Wetter insofern recht, als es mich weniger nach Warnemünde zog. Eine recht interessante und angenehme aber vorübergehende Bekanntschaft machte ich dort an Wunderlichs Freunde, Bachofen aus Basel, einen Juristen, den wir gerne für unsere Universität gewonnen hätten; doch er hing zu sehr an seiner Vaterstadt und ist überdies, wie man sagt, ein zukünftiger Millionär. Ich bin froh, daß kein hohes Vermögen mir die beine schwer macht! Doch könnte es auch nicht schaden, wenn ich etwas weniger leichtfüßig wäre. Um nach dieser unpassenden Bemerkung auf Warnemünde zurückzukommen, so ging es diesmal Kierulff, der den dortigen Aufenthalt heiß am meisten zu genießen versteht, übel genug. Er hatte das größte Haus auf der Schanze und erwartete viel Verwandte; ein Theil war schon angekommen, da erfolgte die Nachricht von dem Ende des alten Christiansen in Schleswig, die nun plötzlich Alle wieder zerstreut.

Nächster Tage erwarte ich den Besuch von Beseler, den ich bei mir aufnehmen will. Er hat die Absicht mit Dahlmann in Lübeck zusammenzutreffen. Du wirst die männlichen Worte, welche er in Kiel gesprochen, in den Zeitungen gelesen haben: der Mann kann nicht anders als offen zu reden, und wenn der Himmel über ihm einzustürzen drohte! Was fragt er darnach, ob es Eichhorn oder Metternich recht ist!

Es ist sehr möglich, daß wir uns schon im nächsten Monat in Berlin wiedersehen. Meine Arbeit3 nöthigt mich, die Bibliothek wieder zu besuchen; doch kann ich das auch aufschieben bis Weihnachten. Ich will es drauf ankommen lassen, bis wann unsere liebe Mutter von Nürnberg zurückkehrt. Wenn sie keine Begleitung gefunden hätte, so hätte ich mich, im Fall sie es gewünscht hätte, wohl zur Reise dorthin entschlossen. Nun aber kann ich ruhig darüber sein und meinen Besuch in der lieben Vaterstadt auf eine Zeit, in welcher mir mehr Muße vergönnt sein wird, verschieben.

Aus der Zeitung ersehe ich, daß Vater Flottwell nach Trier abgereist ist; er wird also den Rhein und die Mosel noch in der schönen Jahreszeit besuchen. Ob er wohl eine von den Töchtern mitgenommen hat? ob er nach Nürnberg kommen wird, wie er im Sommer halb und halb dazu Hoffnung machte?

Lieber Manuel, schreibe mir einmal was Du von politischen Neuigkeiten weißt und mittheilen kannst. Merkwürdig ist es doch, wie Eure Geheimnisse so schnell unter die Leute kommen! so mit dem Project der Differenzialzölle zur Begünstigung der deutschen Schiffahrt. Wann werden denn endlich die Landtagsabschiede erfolgen? wie steht es mit der Constitution? Huber4 beklagt in seinem „Janus“ die Spaltung der conservativen Partei, seitdem Stahl in seiner Schrift über die constitutionelle Monarchie5 den Reichsständen mehr als eine bloß beratende Stimme eingeräumt wissen will. Übrigens schimpft dieser Mensch ganz entsetzlich und macht gewiß Niemandem Freude mit seinem bitterbösen Humor.

Meine herzlichen Grüße an die Mutter Flottwell, Elise und Clara. Es geht ihnen doch allen wohl? Was macht Herrmann? Wie steht’s mit dem Examen? ich grüße ihn bestens.

Lebt wohl und gedenkt oft

 Eures Karl.

P. S. Ich beschwere den Brief mit einer Einlage6 an die Mutter; sei doch so gut, sie gelegentlich, doch nicht zu spät, mit Deinem Briefe abzuschicken.

Ich habe mir in Berlin noch zwei Prioritätsactien von der Niederschlesisch-Märkischen Eisenbahn à 101 gekauft. Das Papier trägt 4 % und wird allmählich ausgeloost. Was hältst Du davon? ich hätte Lust meine russisch-polnischen gegen solche Actien umzutauschen. Denn es ist mir mit diesen immer so zu Muthe, als müßte ich sie auf die eine oder andere Art baldmöglichst mir vom Halse schaffen. – das infame russische Zeug!