Rostock, Sonntag 14. September
1846
Theuerstes Ehepaar!
Es ist recht dankenswerth, daß Ihr durch Eure ausführliche Reisebeschreibung und anziehende liebevolle Schilderung des Nürnberger Familienkreises meinen in Büchern eingehauseten und über dunkle, höchst schwierige Parthien der menschlichen Entwicklung brütenden Sinn mich davon abgezogen und zerstreut habt. Das Menschenleben ist sehr kurz und die menschliche Geschichte so groß, daß sie in jener Kürze kaum mehr zu umspannen ist. Mir erscheint die Aufgabe je mehr ich mich darum bemühe nur größer und unerreichbarer, und doch läßt sich das Bestreben dahin nicht abmachen, am wenigsten für den, der sich jenes als Lebensberuf gewählt hat. Nur fühlt man immer mehr das Bedürfniß, sich das Ziel näher zu rücken und mit der Vergangenheit und aus ihr zur Gegenwart zu gelangen. Darum ist es gut, wenn man häufig an das Gute und Schöne, welches diese bietet und was man zu nuzen immer zu oft versäumt, erinnert wird. Von der andern Seite muß man aber auch für den Zweck, den man sich vorgesetzt hat, Opfer zu bringen wissen: ohne solche hat kein Mensch Etwas, das einen allgemeinen Werth und einige Dauer hätte, erreicht; ich würde mein Leben aber für zwecklos achten, wenn ich es nicht dahin brächte; darum lasse ich mich durch jene Erinnerungen nicht viel stören und da ich meinen Zweck meist fest im Auge behalte, so kosten mich auch die dafür gebrachten Opfer nicht viel und ich habe mich ihrer in keiner Weise zu rühmen.
Doch ich merke zur rechten Zeit, daß ich so nicht fortfahren darf, Friederikchen lacht mich schon aus über meine Ernsthaftigkeit; ich kenne Dich Schelm! Wie schön muß es in Nürnberg, Henfenfeld, Simmelsdorf unter den liebenswürdigen und prächtigen Menschen, die da versammelt waren, gewesen sein! Ich danke Euch, daß Ihr auch meiner dort gedacht habt – es ist mir durch Eure Erzählung Alles recht lebendig | geworden! Wohl hätte ich gern die treffliche Tante Rosenhayn, die Euer Herz so sehr gewonnen hat und die andern bekannten und unbekannten Tanten und Basen, Oheime und Vetterschaften wieder begrüßt! Du gehörst uns nun doch noch mehr an, Friederikchen, wie dann Du Dich in diese Verwandtschaft eingelebt hast – und Du hast es mit so viel Liebe und warmem Herzen gethan! – und auch ein Theil dieses Ganzen geworden bist.
Meine Tage sind hier ziemlich schnell, weil einförmig, abgelaufen; mitunter, besonders in der ersten Zeit, bin ich Nachmittags nach Warnemünde gefahren, wo die meisten meiner Freunde waren. Wir hatten viel schlechtes Wetter; auch gerade zu der Zeit, wo Ihr die Reise von Berlin nach Nürnberg machtet, weshalb ich Euer Geschick damals viel beklagt habe. Mir kam dies Wetter insofern recht, als es mich weniger nach Warnemünde zog. Eine recht interessante und angenehme aber vorübergehende Bekanntschaft machte ich dort an Wunderlichs Freunde, Bachofen aus Basel, einen Juristen, den wir gerne für unsere Universität gewonnen hätten; doch er hing zu sehr an seiner Vaterstadt und ist überdies, wie man sagt, ein zukünftiger Millionär. Ich bin froh, daß kein hohes Vermögen mir die beine schwer macht! Doch könnte es auch nicht schaden, wenn ich etwas weniger leichtfüßig wäre. Um nach dieser unpassenden Bemerkung auf Warnemünde zurückzukommen, so ging es diesmal Kierulff, der den dortigen Aufenthalt heiß am meisten zu genießen versteht, übel genug. Er hatte das größte Haus auf der Schanze und
erwartete viel Verwandte; ein Theil war schon angekommen, da erfolgte die Nachricht von dem Ende des alten Christiansen in Schleswig, die nun plötzlich Alle wieder zerstreut.
Nächster Tage erwarte ich den Besuch von Beseler, den ich bei mir aufnehmen will. Er hat die Absicht mit Dahlmann in Lübeck zusammenzutreffen. Du wirst die männlichen Worte, welche er in Kiel gesprochen, in den Zeitungen gelesen haben: der Mann kann nicht anders als offen zu reden, und wenn der Himmel über ihm einzustürzen drohte! Was fragt er darnach, ob es Eichhorn oder Metternich recht ist! |
Es ist sehr möglich, daß wir uns schon im nächsten Monat in Berlin wiedersehen. Meine Arbeit nöthigt mich, die Bibliothek wieder zu besuchen; doch kann ich das auch aufschieben bis Weihnachten. Ich will es drauf ankommen lassen, bis wann unsere liebe Mutter von Nürnberg zurückkehrt. Wenn sie keine Begleitung gefunden hätte, so hätte ich mich, im Fall sie es gewünscht hätte, wohl zur Reise dorthin entschlossen. Nun aber kann ich ruhig darüber sein und meinen Besuch in der lieben Vaterstadt auf eine Zeit, in welcher mir mehr Muße vergönnt sein wird, verschieben.
Aus der Zeitung ersehe ich, daß Vater Flottwell nach Trier abgereist ist; er wird also den Rhein und die Mosel noch in der schönen Jahreszeit besuchen. Ob er wohl eine von den Töchtern mitgenommen hat? ob er nach Nürnberg kommen wird, wie er im Sommer halb und halb dazu Hoffnung machte?
Lieber Manuel, schreibe mir einmal was Du von politischen Neuigkeiten weißt und mittheilen kannst. Merkwürdig ist es doch, wie Eure Geheimnisse so schnell unter die Leute kommen! so mit dem Project der Differenzialzölle zur Begünstigung der deutschen Schiffahrt. Wann werden denn endlich die Landtagsabschiede erfolgen? wie steht es mit der Constitution? Huber beklagt in seinem „Janus“ die Spaltung der conservativen Partei, seitdem Stahl in seiner Schrift über die constitutionelle Monarchie den Reichsständen mehr als eine bloß beratende Stimme eingeräumt wissen will. Übrigens schimpft dieser Mensch ganz entsetzlich und macht gewiß Niemandem Freude mit seinem bitterbösen Humor.
Meine herzlichen Grüße an die Mutter Flottwell, Elise und
Clara. Es geht ihnen doch allen wohl? Was macht Herrmann? Wie steht’s mit dem Examen? ich grüße ihn bestens.
Lebt wohl und gedenkt oft
Hegel, KarlKarl Hegel
HiKo
11657075X
Hegel, Immanuel (Manuel, Emanuel)Immanuel HegelJurist/Konsistorialpräsident der Provinz Brandenburg11657072518141891 Hegel, Immanuel (Manuel, Emanuel) (1814–1891), Bruder Karl Hegels, studierte von 1832 bis 1834 und von 1835 bis 1836 Jura an der Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin, von 1834 bis 1835 an der Ludwigs-Maximilians-Universität in München, trat 1836 in den preußischen Staatsdienst ein und war als Verwaltungsjurist in verschiedenen Verwendungen des Königreichs Preußen, vor allem im Staatsministerium, tätig, wurde 1865 Präsident des Konsistoriums der Provinz Brandenburg, heiratete 1845 Friederike Flottwell (1822–1861) und 1865 Clara Flottwell (1825–1912), beide Töchter des oftmaligen preußischen Oberpräsidenten und Staatsmanns Eduard Heinrich Flottwell (1786–1865), war u. a. Vater des preußischen Verwaltungsbeamten und Politikers Wilhelm (Willi) Hegel (1849–1925), war 1856 Taufpate seines Neffen Georg Hegel (1856–1933).
Rostock54.0886707,12.1400211Hansestadt an der Ostseeküste des Großherzogtums Mecklenburg-Schwerin mit der 1419 gegründeten ältesten Universität im Ostseeraum.
Privatbesitz
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Privatbesitz
1000
Neuhaus
, Helmut (Hg.): Karl Hegels Gedenkbuch. Lebenschronik eines Gelehrten des 19. Jahrhunderts, Köln, Weimar, Wien 2013.
Neuhaus
, Karl Hegels Gedenkbuch
2013
Rosenhayn, Eleonora Karolina, geb. Haller
-17771852Rosenhayn, Eleonora Karolina, geb. Haller (1777–1852), Tochter Johann Sigmund Hallers (1723–1805), Schwester u. a. von Susanna Maria Tucher, geb. Haller (1769–1832), der Schwiegermutter des Philosophen Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770–1831), und Johann Georgs XXII. Haller (1786–1854), Ehefrau des österreichischen Generalmajors Gustav Ludwig Moritz Rosenhayn († 1823).
Wunderlich, Agathon Gottlob Friedrich WalterAgathon Gottlob Friedrich Walter Wunderlich11735444918101878Wunderlich, Agathon Gottlob Friedrich Walter (1810–1878), in Göttingen geborener Sohn des Klassischen Philologen Ernst Karl Friedrich Wunderlich (1783–1816) und Bruder des preußischen Konsistorialpräsidenten Oskar Wunderlich († 1882). Er war von 1842 bis 1847 ordentlicher Professor der Rechtswissenschaften an der Universität Rostock, vorher vier Jahre an der Universität Basel und ab 1847 an der Universität Halle, bevor er 1850 Richter am gemeinschaftlichen Oberappellationsgericht der vier Freien Städte des Deutschen Bundes in Lübeck wurde.
Bachofen, Johann JakobJohann Jakob Bachofen11850564518151887Bachofen, Johann Jakob (1815–1887), in Basel geborener Jurist und Altertumsforscher aus wohlhabender Familie, der von 1834 bis 1840 an den Universitäten Basel, Berlin, Göttingen und Cambridge studierte und 1839 in Basel zum Dr. jur. promoviert wurde. Im Jahre 1841 wurde er Lehrstuhlinhaber für Römisches Recht an der Universität Basel, 1845 Richter am Appellationsgericht in Basel und forschte als Altertumswissenschaftler immer wieder in Italien.
Kierulff, Johann Friedrich MartinJohann Friedrich Martin Kierulff11616908718061894Kierulff, Johann Friedrich Martin (1806–1894), Jurist und Politiker, 1842/43 ordentlicher Professor der Rechtswissenschaft an der Universität Rostock, ab 1843 Oberappellationsgerichtsrat, 1848/49 Mitglied der Frankfurter Nationalversammlung, 1850 Mitglied des Erfurter Unionsparlaments, 1852/53 Vizepräsident des mecklenburgischen Oberappellationsgerichts in Rostock, von 1853 bis 1879 Präsident des gemeinschaftlichen Oberappellationsgerichts der vier Freien Städte des Deutschen Bundes in Lübeck.
Christiansen-Christiansen, N. N. († 1846).
Beseler, Georg Karl ChristophGeorg Beseler11851019318091888Beseler, Georg (1809–1888), Jurist und preußischer Politiker, war in der Heidelberger Studienzeit neben Georg Gottfried Gervinus (1805–1871) einer der beiden engsten Freunde Karl Hegels (1813–1901). Er wurde ordentlicher Professor der Rechtswissenschaft an den Universitäten Rostock, Greifswald und Berlin.
Dahlmann, Friedrich ChristophFriedrich Christoph Dahlmann11852336817851860Dahlmann, Friedrich Christoph (1785–1860), Politiker und Historiker, war von 1842 bis 1860 ordentlicher Professor für Deutsche Geschichte und Staatswissenschaften an der Universität Bonn, 1848/49 Mitglied der Frankfurter Nationalversammlung, 1850 Mitglied des Staatenhauses für das Königreich Preußen im Erfurter Unionsparlament.
Eichhorn, Johann Albrecht FriedrichJohann Albrecht Friedrich Eichhorn10433526217791856Eichhorn, Johann Albrecht Friedrich (1779–1856), in Wertheim geborener Staatsmann, der von 1840 bis 1848 preußischer Staatsminister der geistlichen, Unterrichts- und Medizinalangelegenheiten war; in Erfurt war er 1850 im Unionsparlament für das Königreich Preußen Mitglied des Staatenhauses und dessen Alterspräsident.
Metternich, Klemens Wenzel Lothar11858146517731859Metternich, Klemens Wenzel Lothar (1773–1859), war ein in Koblenz geborener österreichischer Diplomat, Staatsmann und Politiker. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurde er einer der führenden Politiker Europas; insbesondere nach dem Sturz Napoleon Bonapartes als Napoleon I. (1769–1821) prägten seine Politik und sein System des Gleichgewichts der Mächte ganz entscheidend die politisch-territoriale Neuordnung des kontinentalen Europas im Sinne der Restauration; von 1809 an bis zu seiner Absetzung im Revolutionsjahr 1848 war Metternich Außenminister sowie leitender Minister der Habsburger Monarchie, ab 1821 mit dem Titel Staatskanzler Österreichs. Er trat konsequent ein für das für das monarchische Prinzip, woraus in der Zeit des Vormärzes, der Restaurations- und Biedermeierzeit die Bekämpfung der nationalen/liberalen Bewegungen vor allem in den deutschen Staaten und in Italien resultierte (sogenanntes „System Metternich“ bzw. „Metternichsches System“).
Flottwell, Eduard HeinrichEduard Heinrich Flottwell11663107417861865Flottwell, Eduard Heinrich (1786–1865), preußischer Staatsmann, Minister und oftmaliger Oberpräsident, u. a. von 1841 bis 1844 Oberpräsident der Provinz Sachsen, 1849/50 Oberpräsident der Provinz Preußen, 1850 Oberpräsident der Provinz Brandenburg, Schwiegervater Immanuel Hegels (1814–1891).
Stahl, Friedrich Julius11861664118021861Stahl, Friedrich Julius (1802–1861), in Heidingsfeld bei Würzburgs geborener, zum Luthertum konvertierter Jude, Jurist, Rechtsphilosoph und Politiker, der von 1834 bis 1840 ordentlicher Professor für Staats- und Kirchenrecht an der Universität Erlangen, dann von 1840 bis zu seinem Tode ordentlicher Professor für Rechtsphilosophie, Staats- und Kirchenrecht an der Universität Berlin war. Von 1849 bis 1854 war er Mitglied der Ersten Kammer des preußischen Landtages, 1850 im Erfurter Unionsparlament Mitglied des Volkshauses.
Nürnberg49.453872,11.077298In Franken an der Pegnitz gelegene ehemalige Reichsstadt, seit 1806 Stadt des Königreichs Bayern.
Henfenfeld49.4968771,11.3898656Etwa 25 Kilometer östlich von Nürnberg gelegenes Rittergut, das im Jahre 1817 von dem Nürnberger Kaufmann Benoit (Georg Christoph Benedikt) Schwarz (1801-1876) erworben worden war.
Simmelsdorf49.5972637,11.3379197Namengebender Sitz der Nürnberger Patrizier-Familie Tucher von Simmelsdorf, 1598 erworben, nordöstlich der alten Reichsstadt Nürnberg gelegen. Das Alte Tucher-Schloß, ursprünglich ein Wasserschloß, wurde in den 1830er Jahren im gotischen Stil umgebaut, das „Neue Herrenhaus“ 1808 erbaut.
Warnemünde54.1779039,12.0812875Von Rostock früh erworbener Ort an der Mündung der Warnow in die Ostsee, der den Zugang zum Meer sichern sollte und sich im 19. Jahrhundert zu einem Seebad entwickelte.
Berlin52.5170365,13.3888599Hauptstadt des Königreichs Preußen und ab 1871 auch des Deutschen Reiches.
Basel47.5581077,7.5878261Schweizer Stadt am Rhein, circa 150 Kilometer westlich von Konstanz am Bodensee und etwa 70 Kilometer südlich von Freiburg im Breisgau gelegen.
Schleswig54.51851,9.5653284Etwa 125 Kilometer nördlich von Hamburg und etwa 40 Kilometer östlich von Husum am westlichen Ende der Ostseebucht Schlei gelegene ehemalige Residenzstadt des Herzogtums Schleswig.
Lübeck53.866444,10.684738Alte ehemalige Hanse- und Reichsstadt des Heiligen Römischen Reiches an der Mündung der Trave in die Ostsee etwa 70 Kilometer nordöstlich von Hamburg gelegen, 1815 als Freie und Hansestadt völkerrechtlich souveränes Mitglied des Deutschen Bundes, 1847 Veranstaltungsort des zweiten Germanistentages, 1866 Mitglied des Norddeutschen Bundes, 1871 Gliedstaat des Deutschen Reiches.
Kiel54.3227085,10.135555Im 13. Jahrhundert gegründete Hansestadt an der Ostsee, etwa 90 Kilometer nördlich von Hamburg gelegen, die zu Beginn des 19. Jahrhunderts dänisch war und 1815 mit dem Herzogtum Holstein zum Deutschen Bund kam. Durch die Eisenbahnlinie zwischen Kiel und Altona wurde 1844 der Ostseehafen über die Elbe mit der Nordsee verbunden.
Trier49.7596208,6.6441878In die Zeiten des antiken Römischen Reiches zurückreichende alte Bischofsstadt an der Mosel, etwa 120 Kilometer südwestlich der Provinzialhauptstadt Koblenz gelegen.
RheinCirca 1233 Kilometer langer, im Schweizer Kanton Graubünden entspringender Fluß im Westen des Gebietes des Deutschen Bundes, von der Schweiz, durch den Bodensee, am Ende durch die Niederlande fließend und in die Nordsee mündend.
MoselIn den südlichen Vogesen entspringender, grob nach Nordosten fließender Fluß, der nach 544 Kilometern in Koblenz in den Rhein mündet.
Universität RostockIm Jahre 1419 gegründet, war sie die erste Universität im Norden des Heiligen Römischen Reiches und die älteste im gesamten Ostseeraum.
DifferenzialzollUnterschiedlich hoher Zoll für Waren gleicher Art je nach Herkunftsland.
Niederschlesisch-Märkische EisenbahnDie private Eisenbahnlinie, die ab 1846 Berlin und Breslau verband, wurde 1852 vom Königreich Preußen erworben und verstaatlicht.