Beim Eingang in das neue Jahr drückt es mich doch zu sehr, daß ich so lange in Deiner Schuld bin, und daß ich überhaupt mit meinen Rostocker Freunden so ganz und gar außer aller Berührung gekommen bin.
Vieles muß bei mir das lange Schweigen ich will nicht sagen entschuldigen aber erklären. Ich bin nach und nach durch vieles Reisen und literarische Verbindungen in eine solche Last von Correspondenz hinein gerathen, daß ich mit Gewalt eine Radicalreduction betreiben mußte, die natürlich die Geschäftsbriefe unangetastet lassen mußte, die freundschaftlichen also traf, und mir dadurch alle Correspondenz noch mehr verleidete, als sie mir es zum Theil schon früher war. Dazu kommt meine fortwährende Unfähigkeit, lange Zeit am Tage mich mit Lesen oder Schreiben zu befassen, die mich dann immer mehr zwingt, ein Paar Stunden über die ich Herr bin auf das Nöthigste meiner Arbeiten zu concentriren. Voriges Jahr habe ich eine längere Unpäßlichkeit durchzumachen gehabt, die nicht ernster Natur, aber von auffallender Dauer war, und meine Nerven sehr deprimirt zeigte. Das mußte mich dann noch vorsichtiger machen. Dazu kommt weiter meine neue Lehrthätigkeit, die mir gar zu viel Mühe aufbürdet. Ich nehme das Alles zu genau; es raubt mir so meine Zeit; dann bin ich zu sehr gemüthlich agitiert von den Gegenständen und das reibt mich auf. So muß ich abwarten ob es sich mit mir wieder hebt; ich muß entschiedenes thun um mich physisch und geistig aufstärken.
Nächsten März und April denke ich in London zuzubringen; und im Herbst in Frankreich. Ich denke, daß die vermehrten Sensationen, verbunden mit den anstrengenden körperlichen Bewegungen mir gutthun sollen; ich habe dergleichen doch zu lange entbehrt, seit unsrer italienischen Fahrt eigentlich: was mir vorletzten Herbst Berlin bot, war gar zu wenig. Dann denke ich, daß auf nächsten Herbst (Ende September) auch noch eine Zusammenkunft von Geschichtsforschern und Juristen statt haben wird, wobei sich Dahlmann, Beseler, Reyscher, Grimms wohl gewiß einfinden werden, und wo Du Dich doch auch einstellen wirst? Wir denken da alle in Familie hinzukommen und es wird gewiß eine recht herzlichen Zusammenkunft werden, wenn auch für eigentliche Zwecke der Wissenschaft oder Praxis nichts abfallen wird. Der Aufruf wird nächstens in einigen Blättern ergehen, und er wird bei Dir anschlagen, hoffe ich.
Seit lange harre ich, die Erstlinge Deiner historischen Mühe oder | Muße zu sehen! Schriftchen über Dante; über Machiavelli, Montesquieu und Rousseau, hattest Du mir angekündigt, ich habe aber nichts davon erhalten. Auch Deine sonstigen italienischen Arbeiten sind wohl noch nicht erschienen? Glaube nicht, daß ich, weil ich ganz aufs practische lossteure, der Wissenschaft darum den Rücken kehre, die um ihrer selbst willen bestehen will – es wäre mir leid, wenn sie ganz verschwinden sollte; und ich muthe Niemanden an, meinen Schritt zu tragen, wenn er ihm nicht ansteht.
Ich habe in der Zwischenzeit einen ersten kleinen Schritt gethan, mich in die politischen Dinge zu mischen und in die Tagesgeschichten. Vielleicht kommt eine stärkere Salve nach. Die kleine Schrift habe ich Dir durch Winter schicken lassen; in eurer reiner !protestantischen Entfernung berühren euch wohl diese Sachen nicht so nah. Bei uns im Lande hoffe ich auf den nächsten Schlag zu Gunsten der deutsch-katholischen Sache. Dazu hat mein Büchelchen ein kleines Scherflein mitbeigetragen, was ich kaum erwartet hatte. Bis alle Verlangen danach gestillt sind, werden wohl gegen 10,000 Exemplare in die deutsche Welt eingegangen sein und ich kann für ein erstes Debüt auf seinem Gebiete zufrieden sein.
Grüße mir doch Thöl und Wunderlich herzlich und sage ihnen, daß ich sie nicht für so verstockt gehalten hätte, daß sie mir nicht einmal die Geburt ihrer Kinder anzeigten, denn hoffentlich und vermuthlich haben sie beide welche, vielleicht gar schon mehrere? Ich komme aus aller Chronologie heraus. Warum ich auch sie beide so ganz aus den Augen verlor und meiner Correspondenz, hat zum Theil darin seinen Grund, daß ich vorigen Sommer lange Zeit ärztlich bestimmt war, eine Seebadreise im Herbst zu machen, und da hatte ich auch Alle überfallen wollen und in Doberan zubringen. Nachher änderte sich Befinden und Behandlung und es ward nichts daraus. Ich hatte mich sehr darauf gefreut.
Und haben nun unserer Freunde häusliche Vergnügungen Dir noch nicht Lust gemacht, aus dem Erich-Stande herauszutreten in den Ehestand? Dorothea Dahlmann ist Dir nun genommen; und sie ist eine recht mütterliche weibliche Frau geworden, was Du wohl nicht geglaubt hättest. Ich hatte sie immer anders beurtheilt als ihr. Sie ist musterhaft als Mutter von 5 fremden Kindern, und das ist gewiß eine seltene Eigenschaft.1 Laß mich Guter bald von Dir hören, ich sehe nicht gerne so alle und jede Nachricht abgeschnitten, wenn ich auch von Dir überzeugt bin, was Du von mir nicht minder sein wirst, daß auch schweigend Alles beim Alten unter uns bleibt. Victorie grüßt bestens. Bei uns steht Alles wie sonst.
Dein Gervinus.
1Dorothea Dahlmann (1822-1847) heiratete 1844 den verwitweten Staats- und Privatrechtler, Politiker und Rechtsanwalt August Ludwig Reyscher (1802-1880), der aus erster Ehe bereits einen Sohn und vier Töchter hatte; vgl. dazu die Genealogie, s.v.: DB .
Gervinus (Gervin), Georg Gottfried jun.Georg Gottfried Gervinus11853891818051871Gervinus, Georg Gottfried jun. (1805–1871), deutscher Historiker, Literaturhistoriker und Politiker, Sohn von Georg Gottfried Gervinus sen. (1765–1837) und seiner Ehefrau Anna Maria Magdalena Gervinus, geb. Schwarz (1772–1837). Er war Ehemann von Victorie Gervinus, geb. Schelver (1820–1893), 1835/1836 Professor der Geschichte und Literatur an der Universität Heidelberg, 1836/1837 an der Universität Göttingen (einer der „Göttinger Sieben“), 1844 Honorarprofessor an der Universität Heidelberg, 1848 Mitglied der Frankfurter Paulskirchen-Versammlung.
Hegel, KarlKarl Hegel
HiKo
11657075X
Heidelberg49.4093582,8.694724Alte Universitätsstadt am Neckar, seit 1803 zum Großherzog Baden gehörend und mit Eisenbahnanschluß seit 1840. Circa 90 Kilometer südlich von Frankfurt am Main gelegen, war die Stadt mit ihrer malerischen Schloßruine einer der Hauptorte der Romantik.
UB Heidelberg
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UB Heidelberg1000
Dahlmann, Friedrich ChristophFriedrich Christoph Dahlmann11852336817851860Dahlmann, Friedrich Christoph (1785–1860), Politiker und Historiker, war von 1842 bis 1860 ordentlicher Professor für Deutsche Geschichte und Staatswissenschaften an der Universität Bonn, 1848/49 Mitglied der Frankfurter Nationalversammlung, 1850 Mitglied des Staatenhauses für das Königreich Preußen im Erfurter Unionsparlament.
Reyscher, August LudwigLudwig August Reyscher11874478X18021880Reyscher, August Ludwig (1802–1880), Jurist und württembergischer Politiker, war der Schwiegersohn Friedrich Christoph Dahlmanns (1785–1860) und somit Onkel Hermann Dahlmanns (1831–1894).
Grimm, JacobJacob Grimm
HiKo
11854225717851863Grimm, Jacob (1785–1863), Bruder Wilhelm Grimms (1786–1859), war Jurist, Sprach- und Literaturwissenschaftler. Er war einer der „Göttinger Sieben“, die am 12. Dezember 1837 von der Universität Göttingen fristlos entlassen wurden. Von 1841 an wirkte er in Berlin und wurde Mitglied der Preußischen Akademie der Wissenschaften.
Grimm, Wilhelm11854226517861859Grimm, Wilhelm (1786–1859), Bruder Jacob Grimms (1785–1863), war Sprach- und Literaturwissenschaftler. Er war einer der „Göttinger Sieben“, die am 12. Dezember 1837 von der Universität Göttingen fristlos entlassen wurden. Wie sein Bruder wirkte er seit 1841 in Berlin und wurde ebenfalls Mitglied der Preußischen Akademie der Wissenschaften.
Dante AlighieriDante
https://www.deutsche-biographie.de/pnd118523708.html
11852370812651321Dante Alighieri (1265–1321), in Florenz geborener italienischer Dichter und Philosoph.
Machiavelli, NiccolòNiccolò Machiavelli11857577514691527Machiavelli, Niccolò (1469–1527), in Florenz geborener Politiker, Diplomat, Schriftsteller und Philosoph.
Montesquieu11858367016891755Montesquieu (1689–1755), war ein in Paris geborener Jurist, Literat, Historiker und Philosoph.
Rousseau, Jean-Jacques11860342617121878Rousseau, Jean-Jacques (1712–1778), in Genf geborener Schriftsteller, Philosoph, Pädagoge, Naturforscher und Komponist, der mit seinem Werk als wichtiger Wegbereiter der Französischen Revolution galt und die Pädagogik im europäischen kulturellen Raum bis weit in das 20. Jahrhundert hinein prägte.
Winter, Christian Friedrich11740866217731858Winter, Christian Friedrich (1773–1858), war ein aus Unterfranken stammender, später in Heidelberg wirkender Verlagsbuchhändler, Verleger und Politiker.
Thöl, Johann HeinrichJohann Heinrich Thöl11875716418071884Thöl, Johann Heinrich (1807–1884), in Lübeck geborener Rechtswissenschaftler, der von 1826 bis 1829 an den Universitäten Leipzig und Heidelberg studierte, 1829 promoviert wurde und sich 1830 habilitierte. Von 1842 bis 1849 war er ordentlicher Professor der Rechtswissenschaften an der Universität Rostock, dann bis zu seinem Tode an der Universität Göttingen. In den Jahren 1848/49 war er Mitglied der Frankfurter Nationalversammlung.
Wunderlich, Agathon Gottlob Friedrich WalterAgathon Gottlob Friedrich Walter Wunderlich11735444918101878Wunderlich, Agathon Gottlob Friedrich Walter (1810–1878), in Göttingen geborener Sohn des Klassischen Philologen Ernst Karl Friedrich Wunderlich (1783–1816) und Bruder des preußischen Konsistorialpräsidenten Oskar Wunderlich († 1882). Er war von 1842 bis 1847 ordentlicher Professor der Rechtswissenschaften an der Universität Rostock, vorher vier Jahre an der Universität Basel und ab 1847 an der Universität Halle, bevor er 1850 Richter am gemeinschaftlichen Oberappellationsgericht der vier Freien Städte des Deutschen Bundes in Lübeck wurde.
Dahlmann, Dorothea, verh. Reyscher
Dorothea Dahlmann, verh. Reyscher124275062218221847Dahlmann, Dorothea (1822–1847), war die Tochter des Historikers und Politikers Johann Friedrich Dahlmann (1785–1860) aus dessen erster Ehe mit Julie Dahlmann (1795–1826), geb. Hegewisch, als Tochter des Historikers Dietrich Hermann Hegewisch (1746–1812) und frühere Verlobte des Juristen und Jugendfreundes Karl Hegels, Georg Beseler (1809–1888); seit 1844 war sie verheiratet mit dem verwitweten Rechtsgelehrten und Württemberger Politiker August Ludwig Reyscher (1802–1880), zeitweise ordentlicher Professor der Jurisprudenz an der Universität Tübingen, dessen zweite Ehefrau sie war und dem sie zwei weitere Kinder schenkte.
London51.5156177,-0.0919983An der Themse gelegene Hauptstadt des Vereinigten Königreichs Großbritannien.
FrankreichNach der Französischen Revolution von 1789 wurde das in Westeuropa am Atlantik gelegene Frankreich 1791 konstitutionelle Monarchie, 1793 Republik, 1804 Kaiserreich, 1830 Königreich, 1848 wieder Republik, 1852 erneut Kaiserreich und von 1871 bis 1940 zum dritten Mal Republik.
Berlin52.5170365,13.3888599Hauptstadt des Königreichs Preußen und ab 1871 auch des Deutschen Reiches.
Doberan54.105858,11.9026057Etwa 18 Kilometer westlich von Rostock nahe der Ostsee gelegener mittelalterlicher Klosterort, der sich im 19. Jahrhundert mit seinem Ortsteil Heiligendamm zu einem bedeutenden internationalen Seeheilbad entwickelte.
Erich, auch: Erec/Erek/ErikSpitz- bzw. Kosename für Karl Hegel (1813-1901) von seinem Jugendfreund Georg Gottfried Gervinus (1805-1871) verwendet.
Italiänische/italienische Fahrt/Reise (1838/39)Forschungsreise Karl Hegels nach Italien in den Jahren 1838/39, die er teilweise mit dem Ehepaar Gervinus, Georg Gottfried (1805-1871) und Victorie (1817-1893), unternahm.
Wissenschaft, WißenschaftForschende Tätigkeit in einem bestimmten Bereich zur Hervorbringung eines begründeten, geordneten bzw. für sicher erachteten Wissens.
Wintersche Buchhandlung (Heidelberg)Der Kaufmann, Buchhändler, Verleger, Heidelberger Bürgermeister und badische Politiker Christian Friedrich Winter (1773-1858) war seit 1815 Teilhaber der Heidelberger Verlagsbuchhandlung Mohr & Zimmer und gründete 1822 einen eigenen Verlag mit Buchhandlung in Heidelberg, die C. F. Winter‘sche Universitätsbuchhandlung.
protestantischDem protestantischen, hier bezogen auf den evangelisch-lutherischen Glauben des Christentums angehörend, auf ihn bezogen, ihm zuzuordnen; hier auch gebraucht in Bezug auf die „Protestation der „Göttinger Sieben“.
Deutsch-katholische SacheDer Deutschkatholizismus bzw. die deutsch-katholische Bewegung entstand in den Staaten des Deutschen Bundes in den 1840er Jahren und war eine aktive religiöse Bewegung, die auch politisch engagiert war zugunsten der deutschen Einheit in Form eines Nationalstaates auf die großdeutsche Lösung bezogen und getragen von den Werten wie Idealen des sozialen Liberalismus.
Büchelchen (Gervinus)Publikation von Georg Gottfried Gervinus über: „Die Mission der Deutschkatholiken“, Heidelberg 1845; dazu auch: „Die protestantische Geistlichkeit und die Deutsch-Katholiken. […] von G. G. Gervinus. Zweiter Abdruck“, Heidelberg 1846.
ScherfleinObolus, Gabe, Spende, Almosen, Zuwendung et al.
SeebadreiseKuraufenthalt in einem Seebad; Ferienreise zu seinem Seebad.
Erich-StandBezogen auf den freundschaftlichen Spitznamen Karl Hegels (1813-1901) „Erich“ und damit Synonym für bzw. Anspielung auf dessen Junggesellenstand als lediger/unverheirateter Mann.
Mehrere Registerverweise
Zitierempfehlung
Die wissenschaftliche Korrespondenz des Historikers Karl Hegel (1813-1901), bearbeitet von Helmut Neuhaus und Marion Kreis