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Georg Gottfried Gervinus an Karl Hegel, Heidelberg, 10. Januar 1846

Lieber Erich.

Beim Eingang in das neue Jahr drückt es mich doch zu sehr, daß ich so lange in Deiner Schuld bin, und daß ich überhaupt mit meinen Rostocker Freunden so ganz und gar außer aller Berührung gekommen bin.

Vieles muß bei mir das lange Schweigen ich will nicht sagen entschuldigen aber erklären. Ich bin nach und nach durch vieles Reisen und literarische Verbindungen in eine solche Last von Correspondenz hinein gerathen, daß ich mit Gewalt eine Radicalreduction betreiben mußte, die natürlich die Geschäftsbriefe unangetastet lassen mußte, die freundschaftlichen also traf, und mir dadurch alle Correspondenz noch mehr verleidete, als sie mir es zum Theil schon früher war. Dazu kommt meine fortwährende Unfähigkeit, lange Zeit am Tage mich mit Lesen oder Schreiben zu befassen, die mich dann immer mehr zwingt, ein Paar Stunden über die ich Herr bin auf das Nöthigste meiner Arbeiten zu concentriren. Voriges Jahr habe ich eine längere Unpäßlichkeit durchzumachen gehabt, die nicht ernster Natur, aber von auffallender Dauer war, und meine Nerven sehr deprimirt zeigte. Das mußte mich dann noch vorsichtiger machen. Dazu kommt weiter meine neue Lehrthätigkeit, die mir gar zu viel Mühe aufbürdet. Ich nehme das Alles zu genau; es raubt mir so meine Zeit; dann bin ich zu sehr gemüthlich agitiert von den Gegenständen und das reibt mich auf. So muß ich abwarten ob es sich mit mir wieder hebt; ich muß entschiedenes thun um mich physisch und geistig aufstärken.

Nächsten März und April denke ich in London zuzubringen; und im Herbst in Frankreich. Ich denke, daß die vermehrten Sensationen, verbunden mit den anstrengenden körperlichen Bewegungen mir gutthun sollen; ich habe dergleichen doch zu lange entbehrt, seit unsrer italienischen Fahrt eigentlich: was mir vorletzten Herbst Berlin bot, war gar zu wenig. Dann denke ich, daß auf nächsten Herbst (Ende September) auch noch eine Zusammenkunft von Geschichtsforschern und Juristen statt haben wird, wobei sich Dahlmann, Beseler, Reyscher, Grimms wohl gewiß einfinden werden, und wo Du Dich doch auch einstellen wirst? Wir denken da alle in Familie hinzukommen und es wird gewiß eine recht herzlichen Zusammenkunft werden, wenn auch für eigentliche Zwecke der Wissenschaft oder Praxis nichts abfallen wird. Der Aufruf wird nächstens in einigen Blättern ergehen, und er wird bei Dir anschlagen, hoffe ich.

Seit lange harre ich, die Erstlinge Deiner historischen Mühe oder Muße zu sehen! Schriftchen über Dante; über Machiavelli, Montesquieu und Rousseau, hattest Du mir angekündigt, ich habe aber nichts davon erhalten. Auch Deine sonstigen italienischen Arbeiten sind wohl noch nicht erschienen? Glaube nicht, daß ich, weil ich ganz aufs practische lossteure, der Wissenschaft darum den Rücken kehre, die um ihrer selbst willen bestehen will – es wäre mir leid, wenn sie ganz verschwinden sollte; und ich muthe Niemanden an, meinen Schritt zu tragen, wenn er ihm nicht ansteht.

Ich habe in der Zwischenzeit einen ersten kleinen Schritt gethan, mich in die politischen Dinge zu mischen und in die Tagesgeschichten. Vielleicht kommt eine stärkere Salve nach. Die kleine Schrift habe ich Dir durch Winter schicken lassen; in eurer reiner ! protestantischen Entfernung berühren euch wohl diese Sachen nicht so nah. Bei uns im Lande hoffe ich auf den nächsten Schlag zu Gunsten der deutsch-katholischen Sache. Dazu hat mein Büchelchen ein kleines Scherflein mitbeigetragen, was ich kaum erwartet hatte. Bis alle Verlangen danach gestillt sind, werden wohl gegen 10,000 Exemplare in die deutsche Welt eingegangen sein und ich kann für ein erstes Debüt auf seinem Gebiete zufrieden sein.

Grüße mir doch Thöl und Wunderlich herzlich und sage ihnen, daß ich sie nicht für so verstockt gehalten hätte, daß sie mir nicht einmal die Geburt ihrer Kinder anzeigten, denn hoffentlich und vermuthlich haben sie beide welche, vielleicht gar schon mehrere? Ich komme aus aller Chronologie heraus. Warum ich auch sie beide so ganz aus den Augen verlor und meiner Correspondenz, hat zum Theil darin seinen Grund, daß ich vorigen Sommer lange Zeit ärztlich bestimmt war, eine Seebadreise im Herbst zu machen, und da hatte ich auch Alle überfallen wollen und in Doberan zubringen. Nachher änderte sich Befinden und Behandlung und es ward nichts daraus. Ich hatte mich sehr darauf gefreut.

Und haben nun unserer Freunde häusliche Vergnügungen Dir noch nicht Lust gemacht, aus dem Erich-Stande herauszutreten in den Ehestand? Dorothea Dahlmann ist Dir nun genommen; und sie ist eine recht mütterliche weibliche Frau geworden, was Du wohl nicht geglaubt hättest. Ich hatte sie immer anders beurtheilt als ihr. Sie ist musterhaft als Mutter von 5 fremden Kindern, und das ist gewiß eine seltene Eigenschaft.1 Laß mich Guter bald von Dir hören, ich sehe nicht gerne so alle und jede Nachricht abgeschnitten, wenn ich auch von Dir überzeugt bin, was Du von mir nicht minder sein wirst, daß auch schweigend Alles beim Alten unter uns bleibt. Victorie grüßt bestens. Bei uns steht Alles wie sonst.

Dein Gervinus.