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Immanuel Hegel an Karl Hegel, Berlin, 23. Mai 1846

Lieber Karl!

Wir haben Dich wieder einmal recht lange auf Nachricht warten lassen; die Ursache war keine schlimme, sondern lag nur in der Unruhe und Zerstreuung in der wir leben und die mich oft kaum zum Nothwendigsten kommen lassen. In der letzten Woche war dies vornehmlich der Fall; zu unserer größten Ueberraschung erhielten wir Nürnberger Besuch: am vergangenen Sonntag1 kam Onkel Gottlieb mit Tante Thekla an, und beide sind bis vorgestern, dem Himmelfahrtstag hier geblieben. Das Unternehmen war etwas gewagt, da Thekla ihre Entbindung schon im Juli erwartet2; indessen sieht Gottlieb es für nothwendig, sie etwas herauszureißen, weil sie sich sehr angegriffen fühlte und durch den Tod der Tante Louise in eine trübe Stimmung verfallen war. Die nächste Veranlassung lag in einer Jubilarfeier Tholuks, welchem bei Abschluß seines 25jährigen Dozenthums von Schülern und Freunden viele Ehren dargebracht wurden.3 Die Reise scheint auch die gute Thekla recht erheitert zu haben; nur hat sie vorerst Ursache sich in Acht zu nehmen und wir sind etwas bange wegen der Rückfahrt. Auf Merkwürdigkeiten Berlins leisteten beide Verzicht. Sie wohnten natürlich bei der Mutter. – Gottlieb hat jetzt fast schneeweißes Haar, sieht aber recht wohl aus; er lebt mit größtem Interesse den kirchlichen Interessen und ist in Bayern eigentlich die Seele aller gemeinschaftlichen Unternehmungen der Protestanten, für welche er unverdrossen viel Zeit, Mühe und Geld verwendet. Nur bedaure ich, daß er mit großer Entschiedenheit sich den strengen Orthodoxen angeschlossen hat; eine Richtung, die als persönliche gewiß sehr ehrenwerth, aber als politische, indem sie Herrschen und alle Bewegungen unterdrücken will, die nicht ihre Prinzipien verfolgen, überall in Kampf geräth und eine kräftige Unterstützung der Gemeinden unmöglich macht.

Die Erfolge der Protestanten auf dem Landtag sind im Ganzen günstig gewesen; trotzdem daß die Abgeordnetenkammer aus meistens Catholiken besteht und fast ganz korrumpirt sein soll, so haben die protestantischen Beschwerden doch die Majorität erhalten. Bei den Reichsräthen schien der Ausgang sehr zweifelhaft; man hat daher vorgezogen, noch mehrere einzelne und gerade den Ultramontanen sehr unangenehme Punkte wie z. B. die Entstehung des Bayerischen Concordats dem Ausschuß zur Prüfung zu überweisen, was trotz der Anstrengungen der Ultramontanen mit großer Majorität geschah. Dadurch ist allerdings auf diesem Landtag eine Beschlußnahme beider Kammern vereitelt. Mit dem König soll gar nichts mehr anzufangen sein; er beschwert sich nur über Undankbarkeit und lebt der festen Ueberzeugung, daß man nach seinem Tode seine Vortrefflichkeit erkennen werde; in dieser Hoffnung hört er auf gar nichts, liest auch nicht einmal die Landtagsverhandlungen, in soweit sie nicht in der Augsburger Allgemeinen Zeitung stehen. – Von Nürnberg haben Gottliebs gute Nachrichten gebracht. Bennoit ist mit seinen Kindern nach Henfenfeld gezogen und die Lina soll sich außerordentlich wacker nehmen, und das ganze Hauswesen sehr tüchtig und mit großer Umsicht und Besonnenheit besorgen; die beiden älteren Kinder sind in ein Erziehungsinstitut gebracht und den kleinen neugebornen Knaben hat die Frau Wiss zu sich in Pflege genommen.

Der Mutter brachte dieser Besuch wohl manche Unruhe; doch hat er sie auf der anderen Seite sehr erfrischt und sie befindet sich im Ganzen recht wohl. Auch von meiner Friederike kann ich nur das Beste melden; sie ist immer rüstig und vergnügt, und an Appetit und Schlaf fehlt es nicht.

In unserer Nähe ist nun die Matthäuskirche eingeweiht worden; es geschah in sehr festlicher Weise am vergangenen Sonntag.4 Die Kirche selbst ist überaus freundlich und man hört auch recht gut darin. Der neue Pfarrer, Superintendent Büchsel hat allgemein einen günstigen Eindruck gemacht; er gilt zwar als ein sehr eifriger und streng orthodoxer Mann, – er gewinnt aber das Vertrauen durch sein offnes biederes Wesen, eine seltene Einfachheit und Natürlichkeit seines Vortrags, welche sich auch, unterstützt von einem trefflichen Organ, durch Klarheit und Lebendigkeit auszeichnet. Bis jetzt hat er auch seine Orthodoxie in eine milde freundliche Form eingekleidet und läßt die Liebe vorherrschen. – Mit Erwartung sehen wir nun dem Zusammentritt der Generalsynode entgegen.

Einige Todesfälle haben wir in der letzten Zeit gehabt; die Frau Geheimräthin Schulze ist nach vielen Leiden entschlafen; sie war doch erst 61 Jahr alt; der Geheim Rath schien sehr bewegt und erschüttert zu sein und drückte dies auch ohne seine sonst gewöhnliche Untertreibung aus; ich nahm an dem Begräbniß Theil. – Ferner habe ich vorgestern meinen alten Präsidenten Kessler begraben, welcher nach seiner Pensionirung hier lebte und an einem langjährigen Gehirnleiden starb; er war ein tüchtiger Representant der früheren Zeit. – Von5 Frau von Vincke, an welche ich auf ihre Anzeige geschrieben hatte, hat mir sehr freundlich geantwortet und die Umstände des Todes ihres Sohnes ausführlich erzählt. Seine schwachen Lebenskräfte scheinen sich mächtig verzehrt zu haben. – Auch von Wilhelm von Wahl, unserem alten Genossen erhielt ich durch seinen Schwager, der hier durchreiste, einen Brief: er hat 3 Söhne und lebt in seinem Hause zufrieden; nur im Lande sieht es scheußlich aus; die Russifizirung geht immer despotischer vorwärts, wesentlich werden die Bauern unter falschen Versprechungen verlockt, in Schaaren – im vorigen Winter an 12000 – zur griechischen Kirche überzugehen. –

Eine Neuigkeit ist noch, daß Professor Franz mit 500 rt Reichstaler Gehaltszulage Professor ordinarius geworden ist; darüber große Freude im Hause.

Friederike grüßt Dich herzlich; die Mutter wird wohl einen Brief beilegen.6 Bei Flottwells ist alles wohl. Hermann ist im Examen durchgefallen und darauf im Paedagogium in Halle bei Niemeyer eingetreten; wir meinten alle, daß ihm die Schule noch recht wohl thun wird, wenn es auch als eine harte Prüfung erscheint.

Leb wohl
Dein Immanuel