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Karl Hegel an Georg Gottfried Gervinus, Berlin, 4. Januar 1847

Mein lieber Gervinus!

Du wirst in diesen Tagen den 1 Band meiner italienischen Verfassungsgeschichte in 3 Exemplaren durch die Buchhandlung zugeschickt erhalten, wovon ich eines an Schlosser und eines an Mittermaier mit den hier beiliegenden Büchern abzugeben bitte. Ich wünschte, daß Du mein Buch nicht unangesehen verurtheilen möchtest, weil es eine rein wissenschaftliche, nicht gerade auf die praktische Gegenwart bezügliche Aufgabe verfolgt. Du weißt, wie ich dazu gekommen und nicht ohne davon losgekommen bin, als bis ich zum Resultat einer gewissen Überzeugung durchgedrungen und ich möchte der historischen Wissenschaft damit einen Dienst geleistet, ihre Erkenntniß um etwas gefördert haben; wie sehr ich selbst durch diese Arbeit gefordert worden, nicht bloß in der Ausübung des historischen Buchs und Geschäfts, sondern auch in der Gesinnung und in der Beurtheilung der Gegenwart, das ist mir selbst am besten bewußt, und Du wirst ihr schon darum Deine Theilnahme nicht ganz versagen, weil sie einen Durchgangspunkt meiner Ausbildung zum Historiker bezeichnet, wozu Du selbst mir die erste, nicht genug zu dankende Anleitung und Anregung gegeben hast.

Es sind besonders zwei Hauptpunkte, auf welche meine Aufmerksamkeit vorzugsweise gerichtet gewesen und die ich zum bessern historischen Verständniß zu bringen gesucht habe. 1. Der Wendepunkt aus dem Verfall der römischen Welt zu dem germanischen Mittelalter durch den Eintritt des frischen, belebenden germanischen Volksthums und durch die Entstehung der städtischen Freiheit auf den Grundlagen der germanischen Einrichtungen, welche ich dann erst in einem besondren Anfang auch für Frankreich und Deutschland ausführe. Dieser ziemlich gleichzeitig im 12ten Jahrhundert eintretende Durchbruch der bürgerlichen Freiheit aus den Fesseln des Lehnswesens, die sie zu verdecken drohten, ist mir besonders merkwürdig und auch für die Gegenwart höchst belehrend erschienen, weil er beweist, mit welcher unwiderstehlichen Macht der Impuls einer lebendig gewordene Idee sich allenthalben Raum verschafft und bei aller Verschiedenheit der Bedingungen denselben Formen zustrebt. Auf der andern Seite hat mir dann die Entdeckung große Freude gemacht, daß die romanisierende Hypothese, welche diese Gleichheit oder Ähnlichkeit der Verfassungsformen auf einer und dieselbe römische Unterlage zurückführen wollte, durchweg auf Unkenntniß oder Irrthum beruht: ich konnte mich von Anfang an nicht mit dem Gedanken befreunden, daß die Städtefreiheit des Mittelalters sich nicht selbständig die nothwendigen Formen ihres Daseins sollte geschaffen haben, und noch weniger damit, daß man noch gegenwärtig in den deutschen Gerichten, wo das genaue Recht jetzt, wie bei uns in Mecklenburg, Magistrat und Stadtrath nach den Bestimmungen des römischen Rechts über die Duumviren und Decurionen beurtheilt! Du siehst zugleich, daß wenn mein Buch durchdringt, es selbst noch einen praktischen Nutzen zur Folge haben könne. Ich muß Dir noch Nachricht geben von dem Erfolg meines Schreibens1 an den Großen Giech durch meinen Onkel in Nürnberg. Er bedauert sehr, den ihm gemachten schmerzvollen Antrag ablehnen zu müssen, weil er auf längere Zeit auf jede literarische zu verzichten habe, weil nach dem Tode seines älteren Bruders die ganze Last der Familiengeschäfte und Güterverwaltung auf ihn übergegangen sei. Zugleich aber bringt er den Freiherrn von Lerchenfeld in Vorschlag, von dem man sich das Beste zu versprechen habe, sowohl in Beziehung auf freie und ehrenhafte Gesinnung, die er in der letzten Ständeversammlung bewährt, als hinsichtlich der Darstellungsgabe, und dem auch, nachdem er den Staatsdienst verlassen, die volle Muße vergönnt sei. Mein Onkel bestätigte diese Empfehlung in noch höherem Maaße; und so habe ich es dann Dahlmann, dem ich die Briefe2 zugeschickt, überlassen, das Weitere nach seinem Gutbefinden zu thun.

Mit rechter Lust werde ich, nach Vollendung meines 2ten Bandes, an die mir anvertraute neue historische Aufgabe gehen: ich meine, daß die Schilderung der altlandständischen Verfassung in Mecklenburg ein ganz zweckdienliches und für die Gegenwart belehrendes Gegenbild zu den neuen Repräsentationsverfassungen in Deutschland abgeben kann; übrigens gedenke ich keineswegs jenes ganz ins Schwarze zu malen, so wie umgekehrt diese uns auch nicht lauter Lustseiten darbieten werden. Unsre Tendenz kann vor Allem nur die Wahrheit sein, und wir werden sie anerkennen, auf welcher Seite wir sie finden, ohne uns durch Stichworte leiten zu lassen.

Ich habe mich sehr gefreut über die große Theilnahme, welche Deine Vorlesungen finden; und ich hoffe, daß sie Dir wieder rechte Lust dazu gemacht haben wird. Es ist doch gewiß die belohnendste, am weitesten reichende und nachhaltigste Wirksamkeit, die man auf die jugendlichen Gemüther ausübt: und Du wirst Deine Schüler, wenn Du nur einige Jahre so fortfährst, bald zu Tausenden zählen können!

Ich schreibe Dir dies noch von Berlin aus, wo ich meine Mutter zu den Festtagen besucht habe. Sie befindet sich leidlich wohl und grüßt Euch bestens, besonders auch die Frau Philippi3, deren freundliches Liebeszeichen ihrem Herzen sehr wohlthuend gewesen ist. Mein Bruder lebt sehr glücklich mit seiner liebenswürdigen Frau und einem Töchterlein: er giebt jetzt mit seinem Assessor-Collegen beim Handelsamt ein Handelsarchiv heraus4, welches Dir vielleicht in Eurem Museum5 zu Gesicht kommen wird. In Rostock befinden sich Deine Freunde, Thöl und Wunderlich, wohl und zufrieden; sie gedenken Eurer mit herzlicher Freundschaft und Theilnahme: ich bin viel von ihnen, und auch von dem hiesigen Livländer Reinhold Schmidt nach Euch ausgefragt worden.

Tausend Grüße von mir an Deine liebe Frau und die Schwägerin. Erfreue mich bald einmal wieder mit einem Briefe und gieb mir Nachricht von Deinen Arbeiten und Plänen, woran ich immer das größte Interesse nehme. Ich bin eben dabei, Deine Literaturgeschichte mit erhöhtem Genuß aufs neue zu lesen: sie soll mich zuerst wieder in unsre Gegenwart einführen. Gehabt Euch wohl

Dein Hegel.