Endlich will ich auch Wort halten und Ihnen den zweiten Brief, den ich überhaupt seit meinem Hiersein schreibe, widmen.1 Vielleicht entschuldigen Sie mich, wenn Sie die historische Entwickelung der Dinge vernehmen, wegen meines langen Schweigens. Ich dachte mir aber, die bloße Ankunft würden Sie schon von den lieben Ihrigen erfahren und wollte eben erst ein wenig mehr schreiben können.
Sie hatten mir sehr gut gerathen, daß ich den Abend noch fahren sollte; denn, ½11 Uhr angekommen, hatte ich wirklich um 11 Uhr schon eine Wohnung, die Kugler mir schon vorher angesehen hatte. Das erste was ich that, war, daß ich Ihren Koffer leer packte, ihn in eine Droschke setzte, mich daneben, und nach der Potsdamer Straße fahren ließ, um Ihrer Frau Mutter Ihr Eigenthum und Ihre Briefe an sie zu überantworten. Sie sei in der Lenné Straße, hieß es. Ich gab den Koffer an Buffa’s2 und den Schlüssel und Brief bei Ihrem Herrn Bruder ab, wo ich Niemanden zu Hause traf. Nachdem ich bei Kugler gespeist hatte, setzten wir uns sofort an die Arbeit und machten erst spät Feierabend, um auch ein wenig frische Luft zu schöpfen. Seitdem bin ich aber auch so ununterbrochen bei der Arbeit geblieben, daß ich alle übrigen Freuden und Leiden meines Aufenthalts sehr nebenher habe abthun müssen; denn Kugler hält den Wunsch noch fest, die Schrift Ende Juli wo möglich fertig zu sehen. Wenn ich von „Leiden“ rede, so gehört dahin eine Einquartirung, welche lästiger ist, als unsere braven Soldaten. Allnächtlich werde ich von einer oder zwei Wanzen besucht, die dann zwar dem sicheren Tode verfallen, deren Genossen aber die Opfer rächen zu wollen scheinen. – Dies hat mir schon manche ganz schlaflose Nacht zu Wege gebracht, die ich dann natürlich durcharbeitete, wofür ich von der unnachsichtigen Natur mit starkem Kopfweh bestraft wurde. Dieses war allerdings – da keine Schweden’sche Geburtstagsessen bei der Hand waren3 – etwas anhaltender, verlor sich aber doch immer wieder. – Natürlich würde ich längst ausgezogen sein, allein meine Wirthin ist eine so grundgute und dabei eine so äußerst saubere und zierliche Frau, die mir im Übrigen Alles so behaglich und bequem macht, als es ihre Armuth erlaubt, daß ich es nicht über mein Herz bringen kann, fortzugehen. Und wer weiß, was ich in der nächsten Wohnung finden würde. – Frau Elsner, die durch Aegidi’s von meiner Wanzenwirthschaft hörte, war so freundlich mir 3 ihrer Zimmer zur Disposition zu stellen; allein ich mußte des Kugler’s wegen ablehnen, der mich in der Nähe behalten will.
Ihre Frau Mutter habe ich noch immer nicht gesehen. Den folgenden Tag wollte ich wieder zu ihr gehen, und sie nunmehr bei Ihrem Herrn Bruder auf- Mädchen kennen. Frau Hegel ließ den Kaffe bei offenen Balkonthüren serviren. Es kam noch eine Dame der Familie, endlich die Frau Ministerin Flottwell. Die Damen verhandelten seitwärts über einen großen Puppenkopf, der wahrscheinlich restaurirt und mit seinem Körper begabt werden sollte. Vielleicht ist bald der Geburtstag der kleinen Auguste4, ein gar liebes Geschöpfchen; wir haben Pingping5 mit einander gespielt. – Ihre Frau Mutter, jetzt bei der Frau von Klitzing, hörte ich, werde erst in einigen Tagen wieder sichtbar sein. Ich werde gewiß die freundliche Erlaubniß Ihres Bruders, wieder aufgreifen zu dürfen, benutzen.
suchen. Da traf ich diesen in der Ausstellung, in welche ich vorher gegangen war, weil es der letzte Tag war, an dem sie zu sehen. Ihr Herr Bruder sagte mir, daß ich wohl erst in einigen Tagen Ihre Frau Mutter werde sehen können. Inzwischen war er so freundlich mich in meinem Domizil aufzusuchen. Leider war ich den Nachmittag aber bei Kugler. – Gestern Nachmittag dagegen traf ich Ihren Bruder und seine junge Familie zu Hause und überlieferte bei der Gelegenheit endlich das noch bis dahin in meinen Händen befindlich gewesene Carmen. Ich lernte die allerliebsten, wundersüßen kleinenIch hoffe, daß Ihr Zahnweh wieder vergangen ist, sonst muß ich Ihnen Herrn Memmler’s Radikalkur (das Ausziehen ohne Äther oder Chloroform) anrathen.
Können Sie glauben, daß ich bis jetzt höchstes 3 Mal in eine Zeitung gesehen habe? Es ist ein sehr beschämendes Geständniß; allein es ist leider wahr. Frau Elsner versprach mir, Ihres Sohnes „Reform“6 in mein Haus bringen und auch die Mecklenburgische Zeitung hierher besorgen zu lassen. Beides ist bis jetzt nicht erfolgt. Ich werde mich also entschließen müssen, selber darum X Gänge darum zu thun, damit die Speditionsräderwerke anders eingerichtet werden. Von Ihrem Herrn Bruder hörte ich so etwas von Zurückgabe des Verfassungsentwurfs an die Kammer. Er sprach natürlich davon als von einer Sache, die ich so gut wissen müsse, wie er; und ich schämte mich, zu gestehen, daß ich nichts davon wisse und erlitt die Strafe derer, die sich ihrer Unwissenheit schämen, d. h. ich erfuhr nichts Weiteres.
Im Übrigen vergehen meine Tage mir weit einfacher und einsamer als in Schwerin. Aber nicht unangenehm. Um 2 Uhr reise ich in die Stadt zum Essen, d. h. wenn ich nicht eingeladen bin, was indeß bei den guten Karstens schon wieder für alle Donnerstage geschehen ist. (Berny7 ist Unteroffizier in Hamm, gehört zu seinem Leidwesen zu dem berüchtigten 20er Regiment). Ich treffe im Speise Hause gewöhnlich den Professor Curtius, der erst im Herbst nach Prag geht. Den Abend bringe ich bei Kugler’s oder Heyse’s zu.8 Die übrige Zeit sitze ich bei den Akten und exzerpire nach der Schwierigkeit. Was lernt man da für Menschen und Ansichten kennen! Welche Aufschlüsse giebt das über gekannte und genannte Persönlichkeiten! Die Arbeit ist wirklich so anziehend und lehrreich, wie ich sie mir dachte und ich bin Ihnen von Herzen dankbar, daß auch Sie mich so unbedingt antrieben, sie zu unternehmen. Komme ich auf das Capitel der Dankbarkeit, so hätte ich Ihnen eigentlich sehr viel zu sagen. Aber seien Sie überzeugt, mein verehrter Freund, daß ich auch, ohne es Ihnen weitläufig auseinander zu setzen oder meine Gefühle auf das Papier hinzuschreiben, niemals vergessen werde, mit welcher stets sich gleich bleibenden Freundlichkeit und Berücksichtigung meiner Individualität Sie während der ganzen Dauer unsers geschäftlichen Verhältnißes gegen mich gehandelt haben. Hoffentlich soll das freundschaftliche, das sich daraus entsponnen, immer fort dauern, wozu ich meinerseits in meinem Herzen die lebhafteste Aufforderung finde. –
Die Quittungen: einliegend. Die 24, die ich Ihnen noch schuldige, werde ich Ihrer Frau Mutter mitgeben. Der eine von den Briefen, die Sie so gütig waren, mir nachzusenden, war von …9 aus Altenburg. Er fragt u. A. an, ob nach seiner Rückkehr nach Berlin sein Verhältniß als Correspondent10 werde wieder angetreten werden dürfen. Wenn Sie erlauben, werde ich ihm melden, daß er vielleicht von da, wo er eben ist, besonders wenn er Operationen mitzumachen hat oder wenn was Wichtiges vorfällt, schreiben könne. Werde ihm ferner sagen, daß er die Quittung über das Geld, das ich an seine Mutter gegeben habe, einschickt. – Aegidi’n werde ich sagen, daß er von Gotha schreiben soll.
Mein Schotte scheint noch in Schwerin zu sein. Wenigstens wollte er dort auf 8 oder 14 Tage auf Briefe warten. Hier ist er auch noch nicht angekommen. – An die table d’hôte11 kommt er wohl nie, da er es liebt allein und spät zu speisen.
Haben Sie die Güte das ganze Bureau von mir zu grüßen und Herrn Assur und Ewert zu sagen, daß Sie mir nicht böse sein sollen, weil ich nicht Zeit gefunden von ihnen Abschied zu nehmen. – Auch Prosch’s und Flemming’s bitte ich zu grüssen. Beim Regierungsrath Prosch bin ich auch mit einer Visite de digestion12 in Schuld geblieben. An Wedemeyer und …13 werde ich in der nächsten Briefstunde schreiben. – Viele freundliche Grüße endlich an die guten Schröders.
Ich werde meiner Frau von Sperling schreiben, daß sie etwa noch ankommende Briefe an Sie abliefert, um so eine Aussicht mehr zu haben, einige Zeilen von Ihnen wieder zu bekommen, die mir indessen Ihre Freundlichkeit ohnehin wohl nicht vorenthalten hätte.