Kürzungszeichen Ich weiß in der That nicht einmal, ob Du wieder in Rostock ordentlich gelehrsam ansitzig bist, oder ob Du noch in Schwerin Zeitung redigirst.1 Ich denke mir in dem allgemeinen Umschlag der Dinge bist auch Du wieder in die alte Stellung zurückgekehrt und ich richte also den Brief auf gut Glück nach Rostock. Du thust wohl mir von Deinen Schicksalen einiges zu erzählen. Ich weiß nichts. Um so weniger, als ich mit Beseler auch nicht mehr schreibe, der mir sonst einige Nachricht von Dir gab. Er mag mir wohl sehr böse sein, denn er nahm es mir schon in Frankfurt sehr übel mit Allen seiner Farbe (den alten Dahlmann ausgenommen, der wie ichs verstehe allein etwas staatsmannartiges bewiesen hat) daß ich mir herausnahm, ihrer Parthei unterweilen etwas den Kümmel zu reiben. Ich kann’s nicht verhehlen, daß das Ungeschick grade der Beseler und Co. die Sache in Frankfurt wesentlich verdorben hat und daß die Zeit kommen muß, wo gegen den gefeierten Gagern grade der Vorwurf geschleudert wird, daß er durch Unverstand und Schwäche eine im Anfang so glorreich stehende Sache zu Grund gerichtet hat. Ich erschrecke über die Wüste von Menschen, in die man hineinsieht, wenn man die Leute mustert, die in diesen 2 Jahren sich als die Berufenen gerierten! Von jeher gewöhnt, in der Politik nicht mit Theorien und Lieblingszwecken zu rechnen, sondern mit den Menschen und ihrer Natur, hab ich die Sache in Frankfurt von dem Tage an, wo Gagern die Volkssouveränität proclamirte und sie nachher privatimdesavouirte, halb aufgegeben, und wie er seinen kühnen Griff machte, ganz. Nach der gemachten Erfahrung der 2 Jahre gebe ich die ganze deutsche Sache auf und setze meine Hoffnung wie meine Furcht auf die Revolution. Wir müssen durch die Republik hindurch, und wenn wir darin sitzen bleiben, so wird sie das Schicksal des Welttheils sein. Aber mit Fürsten und mit dem alten und mittleren Geschlechte ist nichts zu machen; kommt aus dem umgewühlten Acker nicht neue Frucht von stämmiger Wurzel zu Tage, so ist Deutschlands Rolle überhaupt ausgespielt.
Ich freue mich sehr darauf, sobald mein Shakespeare zu Ende ist (Du hast doch die 2 ersten Bände erhalten? und wirst den 3ten dieser Tage bekommen) an die Geschichte seit 1815 zu gehen und | darin zu entwickeln, was ich, mehr Historiker immerhin als Politiker, an den Tagsgeschichten in einer Zeitung nicht entwickeln konnte. Auf Ostern2 hoffe ich mit dem 4ten und letzten Bande Shakespeare fertig zu sein, spätestens, und dann habe ich mit der Literatur nichts mehr zu thun und gefalle mir in dem Gedanken dann der Politik und politischen Geschichte ganz zu gehören. Möge mir nur so viel Gesundheit bleiben, als ich zu dem neuen unermeßlichen Geschäfte brauche. Voriges Jahr war mein Uebelbefinden Anlaß, daß ich mir Reichstag und Zeitung vom Halse schaffte; der Ekel an dem Gang der Dinge mochte mich freilich mit krank gemacht haben. Ich schnitt mir dann ein prächtig Stückchen Zeit von 3 Monaten heraus, wo ich, hart an Radetzky vorbei, nach Italien ging und eine schöne Erholung feierte. Kurz vorher und nachher wäre nicht möglich gewesen zu reisen. ggf. Kürzungszeichen Unser Leben geht so im Stillen fort wie gewöhnlich, davon ist also nicht zu schreiben. Sehen wir uns nun nicht einmal an einem dritten Orte oder hier wieder? Denn nach Rostock freilich treibt es mich wenig. Laß mich einstweilen von Deinem Leben, Deiner Vergangenheit, Deinen nächsten Plänen hören. Meine Frau grüßt schönstens.
Herzlichst und unverändert
Dein Gervinus.
PrositNeujahr.
1Karl Hegel (1813-1901) war 1848/49 Chefredakteur der „Mecklenburgischen Zeitung“; vgl. dazu einführend Kreis, Geschichtswissenschaftliche Bedeutung, S. 98 ff.2Ostern fiel im Jahr 1850 auf den 31. März (Ostersonntag) bzw. 1. April 1850 (Ostermontag).
Gervinus (Gervin), Georg Gottfried jun.Georg Gottfried Gervinus11853891818051871Gervinus, Georg Gottfried jun. (1805–1871), deutscher Historiker, Literaturhistoriker und Politiker, Sohn von Georg Gottfried Gervinus sen. (1765–1837) und seiner Ehefrau Anna Maria Magdalena Gervinus, geb. Schwarz (1772–1837). Er war Ehemann von Victorie Gervinus, geb. Schelver (1820–1893), 1835/1836 Professor der Geschichte und Literatur an der Universität Heidelberg, 1836/1837 an der Universität Göttingen (einer der „Göttinger Sieben“), 1844 Honorarprofessor an der Universität Heidelberg, 1848 Mitglied der Frankfurter Paulskirchen-Versammlung.
Hegel, KarlKarl Hegel
HiKo
11657075X
Heidelberg49.4093582,8.694724Alte Universitätsstadt am Neckar, seit 1803 zum Großherzog Baden gehörend und mit Eisenbahnanschluß seit 1840. Circa 90 Kilometer südlich von Frankfurt am Main gelegen, war die Stadt mit ihrer malerischen Schloßruine einer der Hauptorte der Romantik.
UB Heidelberg
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UB Heidelberg1000
Kreis
, Marion: Karl Hegel. Geschichtswissenschaftliche Bedeutung und wissenschaftsgeschichtlicher Standort (= Schriftenreihe der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Bd. 84), Göttingen, Bristol, CT, USA 2012.
Kreis
, Geschichtswissenschaftliche Bedeutung
2012
Beseler, Georg Karl ChristophGeorg Beseler11851019318091888Beseler, Georg (1809–1888), Jurist und preußischer Politiker, war in der Heidelberger Studienzeit neben Georg Gottfried Gervinus (1805–1871) einer der beiden engsten Freunde Karl Hegels (1813–1901). Er wurde ordentlicher Professor der Rechtswissenschaft an den Universitäten Rostock, Greifswald und Berlin.
Dahlmann, Friedrich ChristophFriedrich Christoph Dahlmann11852336817851860Dahlmann, Friedrich Christoph (1785–1860), Politiker und Historiker, war von 1842 bis 1860 ordentlicher Professor für Deutsche Geschichte und Staatswissenschaften an der Universität Bonn, 1848/49 Mitglied der Frankfurter Nationalversammlung, 1850 Mitglied des Staatenhauses für das Königreich Preußen im Erfurter Unionsparlament.
Gagern, Heinrich Wilhelm11868915017991880Gagern, Heinrich Wilhelm (1799–1880), Jurist, Beamter und Politiker, 1848/49 Präsident der Frankfurter Nationalversammlung, Reichsministerpräsident und Reichsminister des Äußeren und Innern der Provisorischen Zentralgewalt in Frankfurt am Main; in Erfurt war er 1850 Mitglied des Volkshauses des Unionsparlaments für das Großherzogtum Hessen.
Shakespeare, William11861372315641616Shakespeare, William (1564–1616), englischer Dichter.
Radetzky von Radetz, Joseph Wenzel11859764717661859Radetzky von Radetz, Joseph Wenzel Anton Franz Karl (auch: Jan Josef Václav hrabě Radecký z Radče; 1766–1858), war Feldmarschall, böhmischer Adeliger sowie überaus bekannter und bedeutender habsburgischer Heerführer in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts.
Schelver, Victorie (Victoria), verh. GervinusVictorie Schelver, verh. Gervinus11659528018201893Schelver, Victorie (Victoria) (1820–1893), Gesang- und Klavierlehrerin, Musikwissenschaftlerin, Ehefrau von Georg Gottfried Gervinus jun. (1805–1871).
Rostock54.0886707,12.1400211Hansestadt an der Ostseeküste des Großherzogtums Mecklenburg-Schwerin mit der 1419 gegründeten ältesten Universität im Ostseeraum.
Schwerin53.6288297,11.4148038Haupt- und Residenzstadt des Großherzogtums Mecklenburg-Schwerin am Schweriner See, circa 80 Kilometer südwestlich von Rostock gelegen.
Frankfurt (Main)50.1106444,8.6820917Ehemalige Reichsstadt am Main, oftmaliger Wahl- und Krönungsort der Könige des Heiligen Römischen Reiches sowie Freie Stadt innerhalb des Deutschen Bundes, dessen Bundestag sich dort versammelte. Die Frankfurter Paulskirche war von Mai 1848 bis Mai 1849 der Tagungsort der Frankfurter Nationalversammlung, die die Frankfurter Reichsverfassung vom 28. März 1849 erarbeitete. Seit dem Mittelalter war es eine bedeutende Messestadt und ein Finanzplatz mit Wertpapierbörse für den Handel mit Staatsanleihen und Aktien.
DeutschlandKulturgeschichtlich ist damit der Raum deutscher Nation und Sprache gemeint, wo „Teutschland“ im Laufe der Frühen Neuzeit eine Kurzbezeichnung für das „Heilige Römische Reich teutscher Nation“ wurde. Im 19. Jahrhundert wurde „Deutschland“ immer mehr zur inoffiziellen Bezeichnung für die deutschsprachigen Gebiete Mitteleuropas, zunächst das Gebiet des 1815 gegründeten Deutschen Bundes, dann des 1871 gegründeten Deutschen Reiches.
ItalienDie in der Form eines Stiefels als Apeninnen-Halbinsel ins Mittelmeer hineinreichende Landschaft von den Alpen bis Sizilien war politisch bis ins 19. Jahrhundert vom Nebeneinander einer Vielzahl von Staaten und von Fremdherrschaft geprägt. Im Zuge der italienischen Nationalbewegung (Risorgimento) kam es erst 1861 zur Gründung des Königreiches Italien als eines Nationalstaates mit König Viktor Emanuel II. (1820-1878) an der Spitze.
redigirenAls (Zeitungs-)Redakteur einen Text für die Veröffentlichung bearbeiten.
Parthey, auch: PartheiPartei; auch im Sinne von: Gruppierung von Anhängern bestimmter Ansichten, von Gleichgesinnten; die politischen Parteien, wie sie heute definiert sind, bildeten sich erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts heraus.
VolkssouveränitätVom Volk eines Landes/Staates ausgehende Herrschaft, innerstaatliche Souveränität, Selbstbestimmung des Volkes, auch: Demokratie, Parlamentarismus, Volksherrschaft.
privatimLateinisch für: zu Hause.
desavouirenDesavouieren, also: in der Öffentlichkeit bloßstellen, nicht anerkennen, in Abrede stellen.
Deutsche Sache, deutsche SacheDeutsche Nationalbewegung im 19. Jahrhundert. Die Frage der deutschen Einheit war zugespitzt im Gegensatz von kleindeutscher Lösung (Preußen) oder großdeutscher Lösung (Österreich).
RevolutionIm Bereich des Politischen, Gesellschaftlichen gewaltsamer Umsturz der gegebenen Verhältnisse auf radikale Art und Weise, im Gegensatz zur Reform.
RepublikStaatsform, bei welcher die Regierung vom Volk oder Repräsentanten des Volkes gewählt wird für eine bestimmte Dauer.
FürstAus dem Althocheutschen von „furisto“, „der Erste“, und damit Pendant zum römischen „princeps“; allgemein stehend für: Herrscher über einen Staat, ein Volk, einen Stamm etc. Vornehmlich bei den Germanen ein exponierter Adeliger als Gefolgschaftsherr; im Heiligen Römischen Reich Angehöriger der Hochadels-Elite; im Lauf der Frühen Neuzeit auch als Adelstitel, der zwischen Herzog und Graf stand.
Shakespeare (Gervinus)„Shakespeare“-Publikation von Georg Gottfried Gervinus (1805-1871), 4 Bde., Leipzig 1849/50; in dritter Auflage, in zwei Bänden 1862 in Leipzig herausgegeben, 1863 in erster englischer Auflage in London.
GeschichteGeschichtswissenschaft als Universitätsdisziplin sowie als gymnasiales Unterrichtsfach; auch: historische bzw. gesellschaftswissenschaftliche Abhandlung, Darstellung, Monographie über einen speziellen konkreten oder abstrakten Forschungsgegenstand wie z. B. die Geschichte einer Stadt, Geschichte einer wissenschaftlichen Disziplin etc.
HistorikerGeschichtswissenschaftler.
Lit(t)eratur, Lit(t)eraturenLiteratur, Plural: Literaturen, im Verständnis des 19. Jahrhunderts Synonym und Oberbegriff für alle sprachlichen (mündlich oder schriftlich fixierten) Zeugnisse; im weiteren Verlauf des 19. Jahrhunderts auch bereits verwendet als Synonym für „wissenschaftliche Fachliteratur“.
Geschichte, politischeAuch: Politikgeschichte als Teildiziplin der Geschichtswissenschaft, in deren Forschungsfokus vornehmlich Staatengeschichte und die darin jeweils handelnden, zumeist exponierten Persönlichkeiten stehen.
Reichstag (1849)Gemäß § 85 der Verfassung des Deutschen Reiches vom 28. März 1849 („Paulskirchenverfassung“) sollte der Reichstag aus Staatenhaus und Volkshaus bestehen.
Deutsche ZeitungBadische Liberale gründeten im Juli 1847 die „Deutsche Zeitung“, die bis 1848 unter der Leitung und Redaktion des Historikers, Literaturhistorikers und Politikers Georg Gottfried Gervinus (1805-1871) für das konstitutionelle Repräsentativsystem sowie für eine einheitliche Gestaltung des deutschen Bundesstaates eintrat. Sie wurde zum wichtigsten und einflussreichen Sprachrohr der gemäßigt liberalen Nationalbewegung.
Mehrere Registerverweise
Zitierempfehlung
Die wissenschaftliche Korrespondenz des Historikers Karl Hegel (1813-1901), bearbeitet von Helmut Neuhaus und Marion Kreis