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Georg Gottfried Gervinus an Karl Hegel, Heidelberg, 4. October 1849

Lieber Erich. (Notiz aus dem Briefe)

Kürzungszeichen Ich weiß in der That nicht einmal, ob Du wieder in Rostock ordentlich gelehrsam ansitzig bist, oder ob Du noch in Schwerin Zeitung redigirst.1 Ich denke mir in dem allgemeinen Umschlag der Dinge bist auch Du wieder in die alte Stellung zurückgekehrt und ich richte also den Brief auf gut Glück nach Rostock. Du thust wohl mir von Deinen Schicksalen einiges zu erzählen. Ich weiß nichts. Um so weniger, als ich mit Beseler auch nicht mehr schreibe, der mir sonst einige Nachricht von Dir gab. Er mag mir wohl sehr böse sein, denn er nahm es mir schon in Frankfurt sehr übel mit Allen seiner Farbe (den alten Dahlmann ausgenommen, der wie ichs verstehe allein etwas staatsmannartiges bewiesen hat) daß ich mir herausnahm, ihrer Parthei unterweilen etwas den Kümmel zu reiben. Ich kann’s nicht verhehlen, daß das Ungeschick grade der Beseler und Co. die Sache in Frankfurt wesentlich verdorben hat und daß die Zeit kommen muß, wo gegen den gefeierten Gagern grade der Vorwurf geschleudert wird, daß er durch Unverstand und Schwäche eine im Anfang so glorreich stehende Sache zu Grund gerichtet hat. Ich erschrecke über die Wüste von Menschen, in die man hineinsieht, wenn man die Leute mustert, die in diesen 2 Jahren sich als die Berufenen gerierten! Von jeher gewöhnt, in der Politik nicht mit Theorien und Lieblingszwecken zu rechnen, sondern mit den Menschen und ihrer Natur, hab ich die Sache in Frankfurt von dem Tage an, wo Gagern die Volkssouveränität proclamirte und sie nachher privatim desavouirte, halb aufgegeben, und wie er seinen kühnen Griff machte, ganz. Nach der gemachten Erfahrung der 2 Jahre gebe ich die ganze deutsche Sache auf und setze meine Hoffnung wie meine Furcht auf die Revolution. Wir müssen durch die Republik hindurch, und wenn wir darin sitzen bleiben, so wird sie das Schicksal des Welttheils sein. Aber mit Fürsten und mit dem alten und mittleren Geschlechte ist nichts zu machen; kommt aus dem umgewühlten Acker nicht neue Frucht von stämmiger Wurzel zu Tage, so ist Deutschlands Rolle überhaupt ausgespielt.

Ich freue mich sehr darauf, sobald mein Shakespeare zu Ende ist (Du hast doch die 2 ersten Bände erhalten? und wirst den 3ten dieser Tage bekommen) an die Geschichte seit 1815 zu gehen und darin zu entwickeln, was ich, mehr Historiker immerhin als Politiker, an den Tagsgeschichten in einer Zeitung nicht entwickeln konnte. Auf Ostern2 hoffe ich mit dem 4ten und letzten Bande Shakespeare fertig zu sein, spätestens, und dann habe ich mit der Literatur nichts mehr zu thun und gefalle mir in dem Gedanken dann der Politik und politischen Geschichte ganz zu gehören. Möge mir nur so viel Gesundheit bleiben, als ich zu dem neuen unermeßlichen Geschäfte brauche. Voriges Jahr war mein Uebelbefinden Anlaß, daß ich mir Reichstag und Zeitung vom Halse schaffte; der Ekel an dem Gang der Dinge mochte mich freilich mit krank gemacht haben. Ich schnitt mir dann ein prächtig Stückchen Zeit von 3 Monaten heraus, wo ich, hart an Radetzky vorbei, nach Italien ging und eine schöne Erholung feierte. Kurz vorher und nachher wäre nicht möglich gewesen zu reisen. ggf. Kürzungszeichen Unser Leben geht so im Stillen fort wie gewöhnlich, davon ist also nicht zu schreiben. Sehen wir uns nun nicht einmal an einem dritten Orte oder hier wieder? Denn nach Rostock freilich treibt es mich wenig. Laß mich einstweilen von Deinem Leben, Deiner Vergangenheit, Deinen nächsten Plänen hören. Meine Frau grüßt schönstens.

Herzlichst und unverändert
Dein
Gervinus.
PrositNeujahr.