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Karl Hegel an Susanna Maria Tucher, Erfurt, 20. und 21. März 1850

Mein süßes Liebchen, Deinen lieben Brief1 habe ich mit den andern Geburtstagbriefen an meine liebe Mutter am 17. dieses Monats Morgens empfangen. Es waren liebe Morgengrüße, die gerade zur bestimmten Zeit eintrafen und die liebe Mutter hoch erfreuten. Was konnte ihr auch mehr Freude gewähren als das neue Zeugniß unserer innigen Liebe, welche auch sie so hoch beglückt! – Ich war schon am Tage vorher Mittags in Berlin eingetroffen und verwendete einen Theil des übrigen Tages zu einigen Besorgungen und Erkundigungen für unsere künftige Einrichtung. Die liebe Mutter fand ich doch weniger leidend als ich dachte: freilich muß sie noch fast beständig liegen und kann sich nur mit Hülfe zweier Krücken durch die Stube bewegen, doch fühlt sie, daß die neu verordneten warmen Seifenbäder ihr gut thun u. ist sie wieder besserer Hoffnung für den kommenden Sommer. Am Sonntag, am Geburtstage2, waren Manuel u. Friederike nebst ihren beiden allerliebsten Mädchen zu Mittag bei ihr: die Kinder ergingen sich in ihrer lauten lärmenden Fröhlichkeit, ohne daß die liebe Mutter sich dadurch beschwert fühlte – ein Beweis, daß ihre Nerven nicht mehr so schwach wie früher sind. Von den Berliner Freunden sah ich nur wenige, die zum Geburtstage Glück wünschten; nur einen Besuch machte ich bei Geheim Rath Karsten, um mich bei ihm nach Beseler, seinen Schwiegersohn, zu erkundigen, ich fand diesen selbst schon da u. wir reisten am anderen Morgen zusammen weiter.

Ich sollte Dir nun auch noch kurz von meiner vorausgegangenen Reise erzählen, da mein letzter Brief noch von Rostock aus datiert ist.3 Am Mittwoch4 machte ich meinen Umzug in unsere neue Wohnung, womit ich wegen meiner vielen Bücher fast den ganzen Tag verbrachte. Daneben nahmen die Abschiedsbesuche die übrige Zeit in Anspruch, so daß ich mit knapper Noth bis zum Abgang der Post fertig wurde. Ich nahm diesmal Abschied von Rostock mit der frohen, mich hoch beglückenden Aussicht, nicht allein wieder zurückzukehren, und zum letzten Male ging die Reise bis Wismar mit Post5, da die Eröffnung der Eisenbahn bis Rostock am 13. Mai bevorsteht.6 Um 7 Uhr Abends kam ich in Schwerin an u. war bis Mitternacht bei meinen lieben Freunden Geheimer Cabinetsrath Prosch, denen ich versprechen mußte bei meiner Zurückkunft mit Dir bei ihnen zu wohnen. Am andern Morgen besuchte ich zuerst den Großherzog, dann den Minister v. Lützow, von denen ich manche interessante Dinge hörte, ging auf eine Viertelstunde in unsere elende Abgeordnetenkammer u. machte die Runde mit meinen Schweriner Freunden bis zum Abend 7 Uhr, da der Bahnzug wieder abging, der mich gegen ½ 11 Uhr bis Wittenberge brachte, wo ich zu Nacht blieb. Als ich früh erwachte, dachte ich an Dich, mein herzliebes Susettchen, dessen Geburtstag7 angebrochen war, von dem das Morgenroth in schönen farbigen Streifen sich über die vor mir liegende weite Ebene hinzog. Meine Phantasie malte mir auf diesem Grund Dein liebliches Bild, welches mich entzückte, bis ich im Eisenbahnwagen wieder zu andern Gedanken abgezogen wurde; aber wenn ich mich allein sah, trat es wieder hervor, und wie ich zu den Meinigen kam, da fand die Liebeswonne frische Erinnerung an Dich nicht minder eine heimatliche Stätte.

Aus Deinem lieben Brief entnehme ich die betrübende Nachricht von Mariechens nicht ganz unbedenklicher Krankheit, die mich mit Sorge erfüllt. Ich habe dieses Schwesterchen wegen ihres sanften und innigen Wesens ganz besonders lieb gewonnen. Auch weiß ich, daß sie Deinem Herzen durch innigste Geschwisterliebe verbunden ist und kann mir denken, daß ihre Krankheit Dich sehr beunruhigt. Möge der Himmel ihr recht baldige Genesung gewähren und uns alle der nächsten Sorge für sie überheben! Vielleicht bringt mir Dein täglich von mir erwarteter Brief schon die erwünschte Nachricht.

Meine liebe Mutter hat indeß eine zweite treue Pflegerin gefunden in einer Elise, die früher im Goßner’schen Krankenhause der Apothekenvorstand u. mit kundigem Sinn u. geschickter Hand die vorgeschriebenen Arzeneien für die Kranken bereitete. Diese, die von der lieben Mutter schon seit lange besonders hoch geschätzt wurde, hat sich ihr nun freiwillig zum Beistand u. zur vertrauten Gesellschafterin im Hause erboten, u. ist ihre Hülfe um so mehr willkommen, als die treue Dienerin Mathilde bisweilen heftigen u. plötzlichen Krankheitsfällen unterworfen ist. –

Ich sollte Dir nun nach diesen persönlichen Angelegenheiten von dem hier eröffneten Parlamente berichten. Doch muß ich noch auf meine Hieherreise zurückkommen. Am Montag, den 18. März früh 8 Uhr fuhr ich von Berlin ab und mit mir eine Anzahl von Abgeordneten im langen Zuge u. mit vielem Gepäck. Unterwegs war so wenig Aufenthalt, daß man nicht einmal zum Mittagessen gelangen konnte. Beseler u. Droysen saßen mit mir in einem Coupé, nachher in Halle traf ich auch mit Regierungsrath Karsten aus Schwerin, Mitglied des Staatenhauses, zusammen. Ankunft in Erfurt gegen 6 Uhr Abends, wo bereits durch Vermittlung eines hiesigen Pastors eine Wohnung für mich gemiethet war, Augustiner Straße Nr. 857, ganz in der Nähe der Augustinerkirche, wo für beide Häuser8 Sitzungslocale und Bureau’s eingerichtet sind. Meine Wirthsleute, Lehrer Große u. Frau, empfingen mich mit zuvorkommender Freundlichkeit. Die Wohnung besteht aus einer bescheidenen Stube nebst Kammer, wofür ich monatlich nur 8 Thaler bezahle. Ich begab mich dann in den ersten Gasthof zum Kaiser u. traf dort gleich mehrere Bekannte, zuerst Dahlmann, Kierulff, meinen Rostocker Landsmann, u. andere. Am folgenden Morgen las ich Zeitungen, machte Besuche, sah mich etwas in der Stadt um, wurde aber bald wieder durch das schlechte Wetter – es schneite beständig – in den Gasthof getrieben. Ich aß im Gasthof von Silber nahe am Bahnhof, wo die meisten meiner Freunde ihren Sammelpunkt finden wollen. Abend war ich wieder im Kaiser. Als ich nach Hause kam, war ich des Herumtreibens im geschäftigen Nichtsthun herzlich müde u. froh, daß es anderen Tages zur Eröffnung des Parlaments kommen sollte. Ich habe vergessen zu erwähnen, daß die gute Stadt Erfurt uns an demselben Abend mit einer festlichen Aufführung zum Willkommen in dem großen Saale des Casino beehrte; doch nahm ich wenig Notiz davon; da ich den Saal voll Erfurter Damen in höchster Parure9 an Tischchen herumsitzend fand, die Herren in Frack u. Glacéhandschuhen, um die Deputirten zu sehen, die sich mit der mittelmäßigen Aufführung eines Theils von Göthe‘s Faust ergötzen sollten.

Am Morgen des 20. März (ich schreibe dieses schon am Abend des 21.) wurden die Glocken geläutet, auch die berühmte Domglocke, Susanna genannt (sie sollte mich an mein Susettchen erinnern). Um 10 Uhr fand der Gottesdienst statt, für die Evangelischen in der Barfüßerkirche, für die Katholiken in der Augustinerkirche10. Vorher besuchte ich unseren Bevollmächtigten im Verwaltungsrath11 v. Schack, der mich noch mit zwei anderen Mitgliedern des Verwaltungsraths bekannt machte. In der Barfüßerkirche hielt der Superintendent Scheibe eine recht passende und beherzenswerthe Predigt über die Worte des Psalm: des Herrn Furcht ist der Weisheit Anfang12. Darauf zog man in das Regierungsgebäude, wo die Mitglieder beider Häuser13 sich im großen Saale zusammenfanden. Feierlichen Schrittes traten darauf herein die Mitglieder des Verwaltungsraths, voran v. Radowitz. Er verlas die Botschaft. Man trennte sich wieder u. eilte zu den Sitzungslocalen, um einen guten Platz zu belegen. Ich habe mich mit meinen Freunden links gesetzt; rechts sitzen hauptsächlich die Minister, Generale, Excellenzen u. ihr Anhang. Vincke14, Beseler, Harkort, Stedmann, Beckerath, Mevissen, Hergenhahn sitzen in meiner Nähe, Kierulff mir zu Seite. An dem Tisch der Commissarien befandt sich v. Radowitz mit zwei andern Mitgliedern des Verwaltungsraths. Radowitz leitete die Verhandlungen ein mit Vorlage der Geschäftsordnung; der Alterspräsident wurde bezeichnet, die 4 jüngsten Mitglieder (sie waren jünger als ich – 34 Jahre alt) zu Schriftführern herausgesucht, die 7 Abtheilungen formirt usw. Unser Alterspräsident v. Frankenberg (Präsident des Ober- Landsgerichts von Posen) gab sich mir heute als einen alten Freund der Flottwell’schen Familie zu erkennen. – Die Sitzungslocale der beiden Häuser sind ausnehmend schön, wozu die gothische Bauart der Kirche sehr zu statten kommt. Der hohe Chor mit prächtigen Glasmalereien verziert bildet das Staatenhaus, ein Theil des Schiffs das Volkshaus: beide Häuser sind durch eine durchgehende Mauerwand vollständig von einander getrennt. Höchst geschmackvoll ist auch die angebrachte innere Verzierung durch Drapperien u. ebenso zweckmäßig die Anordnung der Plätze.

Am Abend fand noch eine vorberathende Versammlung von etwa 200 Abgeordneten beider Häuser in einem Saal auf dem Eisenbahnhofe15 statt, wo man sich über einige der nächsten Aufgaben verständigte.

Heute morgen 9 Uhr versammelten sich die Abtheilungen16 in ihren getrennten Localen, um ihre besonderen Vorstände zu wählen. In der 4. Abtheilung, der ich zugewiesen bin, wurde Graf Schwerin, der bisherige Präsident der 2. preußischen Kammer, zum Vorsitzenden gewählt, und ich hatte die Ehre, zum Schriftführer der Abtheilung gewählt zu werden. Um 12 Uhr war wieder Plenarsitzung, wo diese Wahlen angezeigt, die Wahlprüfungen angeordnet wurden. Darauf las ich von 1 bis 3 Uhr Zeitungen, brachte von 3–5 Uhr im Kaiser beim Essen zu, wo ich in meiner nächsten Umgebung allein nicht weniger als 6 Minister in oder außer Dienst zählte. Ich unterhielt mich besonders mit einem Nassauer, einem Kurhessen u. einem Preußen aus Minden, die alle die gleiche Überzeugung von der Nothwendigkeit unseres Bundesstaats theilten. –

Ich komme nun zu Dir zurück, mein einzig geliebtes Susettchen, Du süßer Ruhepunkt meiner Gedanken, Du lieber Magnet meiner schönsten Empfindungen. Mich verlangt recht sehr nach einem Brief von Deiner lieben Hand, und ich gestehe, daß ich ihn schon seit mehreren Tagen erwartet habe; denn so ungenügsam bin ich in Hinsicht auf Deine Liebesbeweise, daß ich Deinen lieben Geburtstagsbrief17 nur für einen außerordentlichen ansehen wollte u. nichtsdestoweniger die gewöhnliche Antwort auf meinen letzten aus Rostock schon hier erwartete. Verzeih‘ mir, gutes Susettchen, wenn ich unbescheiden war; aber ich bitte, laß mich auch nicht länger warten auf Deinen Liebesboten, wenn Du diesen erhalten haben wirst; sonst komme ich Deinetwegen in Sorgen, oder auch Mariechens wegen, die Du gewiß mit aufopfernder Liebe gepflegt hast.

Von der lieben Mutter habe ich bereits gestern hier einen Brief erhalten. Sie schreibt mir von einem neuen Krankheitsanfall der treuen Mathilde, wobei sich der Beistand der Pflegerin Elisa als höchst erwünscht erwiesen, da nun diese der lieben Mutter die Angst u. Anstrengung ersparte, wodurch sich schon einmal ihr Fuß so verschlimmert hat. –

Ich gebe disen Brief noch heute Abend auf die Post und wenn ich morgen oder übermorgen einen von Dir erhalten sollte, so werde ich Deine Antwort nicht erst abwarten, sondern Dir, wenn möglich sogleich wieder schreiben. – Oft wünsche ich, ich hätte Dich bei mir, mein liebes Susettchen, u. dann, wenn ich meine unruhige Lebensweise betrachte, weiß ich wieder nicht, ob ich es wünschen soll. Nur wenige Abgeordnete haben ihre Frauen bei sich, weil alle nicht erwarten, daß es hier lange dauern sollte; doch bringen einige dieselben selbst an die Mittagstafel mit, was mir aber kaum gefällt. Ich würde Dich nicht in eine so fremdartige Lebensatmosphäre versetzen mögen. – Hoffen wir zu Gott, daß wir hier bald zum guten Ende gelangen! Tausend Grüße an die lieben Eltern, an das theure Mariechen, dem ich meine ganze Theilnahme bei der Krankheit gewidmet, u. die andern lieben Geschwister u. Verwandten.

In unwandelbarer Liebe
Dein Karl.

NB18. Meine Wohnung ist hier, wie vermerkt,
Augustiner Straße 857