PDF

Karl Hegel an Maria Helena Susanna Hegel, geb. Tucher, Erfurt, 23. März 1850

Geliebteste Mutter!

Da bin ich denn heute schon den fünften Tag in Erfurt und habe bereits die vierte Sitzung des Volkshauses hinter mir. Ich berichte nichts über unsere Parlamentsverhandlungen, da Ihr hierüber das Ausführliche in den Zeitungen finden werdet; auch ist nicht viel davon zu sagen, da bis heute nur Wahlprüfungen vorkamen, deren man sich so schnell als möglich erledigte. Ich beschränke mich also hauptsächlich auf das, was mich persönlich betrifft und auf die persönlichen Eindrücke, die ich empfangen habe.

Ich reiste zusammen mit Beseler, Droysen, Goßler in demselben Coupé bis Halle; dort traf ich noch den Regierungs-Rath Karsten aus Schwerin, welcher direct über Wittenberge gekommen war; und auch Vincke, Patow, Gerlach, Stahl und andere Abgeordnete aus Preußen waren mit demselben Zuge. In Erfurt angekommen, verfügte ich mich sofort in meine Wohnung in der Augustinerstraße, wo ich von den Wirthsleuten, einem Schullehrer Große und Frau, sehr freundlich bewillkommnet wurde und mein Wohnzimmer geheizt fand. Dieses ist, ebenso wie das Schlafzimmer, sehr einfach eingerichtet, aber mit allen nöthigen Bequemlichkeiten versehen und gut warm, was bei dem kalten Schneewetter, das wir bisher hatten, nicht unwesentlich ist. Im Gasthof zum Kaiser, wohin ich dann ging, fand ich sogleich mehrere Bekannte, Dahlmann, Kierulff u. a. Die Abgeordneten waren dort sehr zahlreich versammelt. Andern Tages machte ich einige Besuche, las Zeitungen in dem vereinigten Lesezimmer vom Casino und Ressource, wo  Mittags im Gasthof bei Silber, in der Nähe des Bahnhofs, wo eine große Zahl von Abgeordneten, ebenso wie im Kaiser, um 3 Uhr speisten, und freute mich, daß es am folgenden Tage zur Eröffnung des Parlaments kommen sollte, weil mir dies geschäftige Nichtsthun doch im Grunde wenig behagte.

Am 20. März Morgens läuteten die Glocken, auch die große Susanna (um mich an Susette zu erinnern) vom Dom. Wir gingen in die evangelische Kirche, wo der Superintendent Scheiber eine recht passende eindringliche Predigt hielt. Doch war meine Stimmung sonst eben nicht feierlich oder besonders gehoben. Man hat zu viel Täuschungen erfahren, um leicht wieder Vertrauen fassen zu können; doch ist es vielleicht gut für das Gelingen, daß man dies mal so nüchternen Sinnes ans Werk geht. Die Botschaft des Verwaltungsraths hatte ganz denselben nüchternen Charakter. Von dem Regierungsgebäude, wo sie vorgetragen wurde, gingen wir in die Augustinerkirche, wo sich die Sitzungslocale der beiden Häuser1 befinden. Dise sind außerordentlich schön und geschmackvoll eingerichtet, das Staatenhaus im hohen Chor mit schön gemalten Fenstern, das Volkshaus im Schiff der Kirche. Die Wahl des Alterspräsidenten und der Schriftführer, wozu die jüngsten Mitglieder genommen werden – ich war keiner von diesen, die nur 34 Jahre zählten – machten den gewöhnlichen Anfang. Unser Alterspräsident von Frankenberg, der sich mir später als einen nahen Freund des Flottwellschen Hauses bekannt machte, benimmt sich so ungeschickt wie die meisten Alterspräsidenten; doch soll ihn Eichhorn im Staatenhause noch bei weitem übertroffen haben durch die lächerlichste Unbeholfenheit. Am folgenden Morgen2 formirten sich die Abtheilungen, wie sie durch das Loos zusammengeworfen worden. Ihr werdet gesehen haben, daß ich in der 4. Abtheilung mit Graf Schwerin, Gerlach, Duncker, Kierulff u. A. zusammengekommen bin. Schwerin wurde hier, nicht durch das Loos, zum Vorsitzenden, ich zum Schriftführer gewählt – die Ehre ist nicht groß, aber ich finde doch etwas dabei zu thun durch die Abfassung der Protokolle über die Sitzungen der Abtheilung. Auch durch mehrere Wahlprüfungen der Abtheilung wurde ich beschäftigt. –

Mit Freuden begrüßte ich Deinen lieben Brief3, den ich zu Hause vorfand. Also meine Wäsche ist glücklich angekommen und Du hast ihr sogar, Du liebes Mütterchen, einen gewissen 4 Reiz von Erinnerungen abgewonnen. Auch wäre ich durch das, was Du mir über Dein Befinden schreibst, nach den Umständen vollkommen befriedigt, wenn mich nicht der neue Unfall Mathildens befürchten ließe, daß Du dadurch doch sehr erschreckt sein möchtest. Doch wie danke ich dem Himmel, daß er Dir in der guten Elise gerade jetzt einen sichern Beistand geschenkt! Nichtsdestoweniger wünsche ich sehr, daß Du auch Mathilden behalten könntest.

Auf einen Brief von Susettchen warte ich noch immer mit Schmerzen und kann mir ihr Schweigen wirklich nicht anders erklären, als daß sie consequent erst einen neuen Brief von mir aus Erfurt abwarten wollte. Da ich selbst aber immer noch wartete, so habe ich erst vorgestern an sie geschrieben5 und werde nun wohl noch mindestens bis morgen auf die Antwort warten müssen; indessen wirst Du wohl über die Ankunft des Kistchens benachrichtigt sein. Wegen Mariechens Krankheit bin ich aber auch in Sorgen. –

Außer den öffenlichen Sitzungen haben auch schon mehrere Privatversammlungen von Abgeordneten zur Besprechung über unsere nächste und weitere Aufgabe statt gefunden. Die Parteien der vorausgehenden und nachfolgenden Revision fangen an sich zu scheiden: ich gehöre natürlich der letzteren mit allen meinen Freunden an. Wir kommen in einem Saale des Bahnhofgebäudes zusammen und hatten dort gestern eine sehr lebhafte und interessante Discussion über ein von dem Minister Bodelschwingh vorgelegtes Programm, welches „die Annahme der Verfassung vor der Revision“ zum Ziel hatte. Bodelschwingh sprach mit großer Kraft und vieler Wirkung; außer ihm ließen sich die renommirtesten parlamentarischen Größen vernehmen: Vincke, Beseler, Beckerath, Stedmann, Wippermann, Camphausen, welcher den Vorsitz führte, und andere. Das Programm wurde unverändert angenommen und unter großem Gedränge unterzeichnet. Es umfaßt verschiedene Meinungsnuancen, nur die Revisionspartei Gerlach, Stahl und Consorten ist ausgeschlossen. Es wird nun drauf ankommen, ob die Partei der Annahme en bloc auch bei der Präsidentenwahl zusammenhalten wird, worüber morgen Abend eine Vorverhandlung stattfinden soll. Gewiß würde Gagern alle Stimmen auf sich vereinigen, aber er ist noch nicht eingetroffen und will sich absichtlich der Präsidentenwahl entziehen; es handelt sich nun um Simson oder Bodelschwingh. –

Diese Wahl, so wie die des übrigen Bureaus findet am Montage6 statt, am Dienstage vermuthlich die Wahl des Verfassungs=Ausschusses. Davor hat das Volkshaus vorläufig nichts weiter zu thun und ist zu erwarten, daß es sich auf 8 Tage über das Osterfest7 vertagen wird. Was ich in diesem Falle zu thun habe, ist wohl nicht zweifelhaft: ich rutsche sofort nach Nürnberg zu meinem Susettchen ab, leider freilich noch nicht zur Hochzeit, welche die lieben Eltern sich nicht so über Hals und Kopf gefallen lassen werden, aber doch zum wonnevollen Wiedersehen. Ich schreibe Dir dann von Nürnberg; dorthin habe ich von meinen Absichten noch nichts kundgegeben. –

Bei der Wäsche fiel mir ein, daß wenn es Deine gütige Absicht sein sollte, – wie ich jedoch nicht glaube, weil es überflüssig wäre, – mir noch mehr Handtücher machen zu lassen (Susettchens Ausstattung wird diesen Artikel gewiß reichlich genug bedenken) ich sie etwa zwei Hand breit länger wünschte. –

Nun leb wohl, liebste Mutter; tausend Grüße an Manuel und Friederike. Für Manuel habe ich Quartier, wenn er etwa kommen sollte, was mir eine sehr große Freude machen würde. Ich verkehre hier mit diesem und jenem; vorzugsweise mit Niemand; die Frankfurter8, selbst Beseler, schließen sich einigermaßen untereinander ab und haben ihre besonderen Vereine, in die ich mich nicht eindränge. – Noch einmal lebt wohl und schreibt mir bald wieder.

In herzlicher Liebe
Euer Karl.