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Karl Hegel an Immanuel Hegel, Nürnberg, 4. Juni 1850

Liebster Manuel!

Das von Allen erwartete und mit immer größerer Bestimmtheit vorhergesehene Trauer-Ereigniß ist noch schneller eingetreten als wir bis zuletzt geglaubt hatten. Der gute Gottlieb ist bereits heute morgen um ½ 5 Uhr sanft verschieden. – Noch am Sonntag1, am Tage nach Eurer Abreise, hatten wir neue Hoffnung gefaßt, da das Befinden des Kranken gebessert erschien. Am Nachmittage empfingen wir, nämlich die Eltern, Susette und ich und Mariechen mit ihm das Heilige Abendmahl, nach welchem er verlangt hatte, aus den Händen des Pfarrers Vorbrugg. Er war zwar sehr schwach, besonders durch das anhaltende Abweichen mit Abgang von Blut, aber doch bei ungestörtem Bewußtsein. Gestern traten neue bedenkliche Symptome ein, welche die stattfindende Zersetzung des Blutes anzeigten, und der Arzt erklärte, daß dem Leben nur noch wenige Tage Frist gesetzt seien. Für die Nacht hatte der Vater eine Wärterin angenommen, um doch der Mutter einige Ruhe zu verschaffen. Um 3 Uhr wurden die Eltern durch die Wärterin gerufen. Der Kranke sagte zur Mutter: Grüße, grüße alle meine Freunde, alle, die mich besucht haben; die Mutter machte ihn darauf aufmerksam, daß er jetzt seine Gedanken auf seinen Herrn und Heiland zu richten habe; er erwiderte: Du sprichst vom Tod und Sterben; ich sterbe nicht. Doch war er insofern völlig vorbereitet auf seinen Tod, als seine Stimmung fromm und ergeben war, auch auf Befragen der Mutter gesagt hatte, daß er seinen dahingegangenen Brüdern zu folgen gerne bereit sei. Die Eltern legten sich wieder zur Ruhe und wurden um ½ 5 Uhr wieder gerufen: ihr trefflicher Sohn hatte so eben ausgeathmet. Er war gewiß ein guter lieber frommer und kräftig strebsamer Jüngling – so haben ihn seine Freunde, wie wir, ihn gekannt und geliebt; und sicher hätte er seinen geliebten Eltern bei längerem Leben Ersatz gegeben für Vieles, was sie an seinen beiden vor ihm dahingegangenen älteren Brüdern verloren. Der Vater sagte heute morgen unter schweren Thränen, er komme sich vor wie ein entlaubter Stamm. Was hat er nicht Alles für die Familie und für sein Haus geschafft, in dem Gedanken, daß seine Kinder die Früchte davon ernten, daß seine Söhne ihm bald seine Mühe erleichtern, sein Werk fortsetzen würden! Wie viel Hoffnungen sind ihm ins Grab gesunken mit seinen drei erwachsenen Söhnen! Ich will suchen ihm so viel Ersatz dafür zu gewähren, als mir in der Entfernung möglich ist. – Die liebe Mutter trägt ihren Schmerz mit derselben himmlischen Ergebung und Ruhe, ja ich möchte sagen Heiterkeit, die Ihr an ihr kennt: sie scheint nur die Anderen zu trösten, nicht selbst des äußeren Trostes zu bedürfen. –

Unsere Abreise war auf morgen festgesetzt, Ausstattung und Hausschenken waren bereits in zwei Tonnen verpackt, wozu nur noch eine Kiste für die Kleider kommen sollte. Unter den gegenwärtigen Umständen müssen wir sie noch weiter verschieben, wahrscheinlich bis Montag, 10. Juni 1850. Unsere Anwesenheit ist den lieben Eltern jetzt besonders erwünscht und kann dazu beitragen, ihren Schmerz in etwas zu erleichtern. Der endliche Abschied wird freilich doppelt schwer fallen.

Am Sonnabend Abend nach Eurer Abreise hatten wir noch eine lange ermüdende Gesellschaft bei Wilhelm Tucher auszuhalten, nachdem wir am Nachmittag die letzten unserer Abschiedsbesuche abgearbeitet hatten – eine Arbeit, die wir auch noch am Sonntag Vormittag bis um 2 Uhr fortsetzten und glücklich zu Ende brachten. Die Abendgesellschaft dauerte bis Mitternacht; Gottlieb und Thekla konnten sich nicht davon dispensiren, obwohl sie ihre Abreise auf den andern Morgen früh 4 Uhr festgesetzt hatten; Thekla mußte um 2 Uhr wieder aufstehen, um noch zu packen. Die Leitheimer2 blieben noch bis gestern Mittag. Susettchen und ich besorgten verschiedenen Austausch (u. a. für die Leuchter von Wiß3 einen Fußteppich vor dem Sopha), und am Nachmittage wurde gepackt. Heute morgen habe ich die Trauerbotschaft zu den Großeltern nach dem Glockenhof gebracht; als ich zurückkam, fand ich den trefflichen Pfarrer Deintzer von Großen Gsee, der zum Besuch gekommen war; an ihn hatte sich der liebe Gottlieb ganz besonders angeschlossen, ihn oft und zuletzt noch zu Ostern4 besucht. –

Die Beerdigung wird Donnerstag5 Nachmittag stattfinden, morgen die Section.

Heute sind gerade acht Tage seit unserem Hochzeitstage verlossen: so nahe beisammen ist Freud und Leid, wie selten in einer Familie – es sind ernste Flitterwochen!

Die Nachricht, die ich Euch gebe, wird Euch kaum überraschen; doch richte ich meinen Brief an Dich, lieber Manuel, damit Du sie unsrer guten Mutter selbst mittheilen mögest. –

Susettchen wollte noch einige Worte hinzufügen, aber sie wurde durch fortwährende Besuche und durch Schneidern, wobei auch Lina nebst andern Freundinnen fleißig helfen, um sämmtlichen Kindern schwarze Kleider anzufertigen, daran gehindert.

In Berlin dürft Ihr uns kaum vor dem 15. Juni erwarten.

Die herzlichsten Grüße von Susette und ihren lieben Eltern an Euch und die liebe theuerste Mutter, welche gewiß den innigsten Antheil an unserem Leid wie an unsrer Freude nehmen wird. Leb wohl.

In inniger Liebe
Dein Karl.