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Karl Hegel an Johann Jakob Bachofen, Rostock, 3. Dezember 1850

Verehrter Freund!

Empfangen Sie meinen herzlichen Dank für die erfreuliche Gabe Ihres 1. Bandes römischer Geschichte, so wie für die freundschaftliche Erinnerung, die Sie mir zugleich damit kund gegeben. Ich habe das Buch, welches mir erst, vor wenigen Tagen durch Leist eingehändigt worden, sogleich im Zusammenhang durchgelesen und will Ihnen von dem ersten Eindruck schreiben, den ich davon empfangen. Ich thue dies so aufrichtig, wie ich es Ihnen gegenüber darf und wie Sie es sicherlich von mir nicht anders erwarten. Doch erwarten Sie kein eingehendes Urtheil über das Einzelne, wozu ich mich durchaus ungeschickt fühle, da mir die hierher gehörigen Studien seit lange fern liegen.

Es wird gewiß Manchem so gehen wie mir, daß er beim Anblick eines ganzen Bandes vorrömischer Geschichte zuerst einen gewissen Schrecken bekommt – ein Gefühl, welches sich leicht begreift, wenn man sich auch nur einigermaßen auf diesem weiten Felde der Kritik und der Hypothesen mit wenig Lust und Befriedigung herumgetummelt hat. Auch würde ich mich nur mit Mühe überwunden haben, das Buch ganz durchzulesen wenn Sie nichts weiter gewollt und gethan, als eine Reihe neuer Hypothesen aufzustellen und durchzufechten. Doch versprach mir sowohl Ihre gefällige Zuschrift wie die Gerlachsche Vorrede ein Anderes, und wenn ich auch nicht Ihren unbedingt reactionären und gläubigen Standpunkt theilen kann, sodann der Kritik auf dem Felde der Historie wie überall gleichfalls ihm gebührende Ehre lasse, so gehöre ich doch zu denen, welche ihren kritischen Unglauben gern so viel positiven Glauben als weit ehrlichem Gewissen irgend möglich ist abzugewinnen suchen, sicherlich nicht zu den Verstockten, die neben ihrem eigenen Verstande weder eine göttliche noch menschliche Autorität anzuerkennen geneigt sind. Also mit möglichst hingebender Bereitwilligkeit habe ich mir Ihren Standpunkt gefallen lassen, um mir dessen Gewinn, so viel ich es vermag, anzueignen. Und Ihr Buch hat mich in manchen Parthien über Erwarten belohnt. Um es gleich ohne weitere Umschweif zu sagen, so waren es vornehmlich der erste und der letzte Abschnitt: „Das restliche Mittelitalien und die Völker desselben“, die mir nicht allein viele Belehrung, sondern auch Genuß und Freude gewährt haben. Ihre lebendige und anschauliche Schilderung des herrlichen Landes, wie es sich vom Monte Cassino1 aus dem erstaunten Blicke zeigt, hat mich im Geiste lebhaft dazu zurückversetzt und meiner verblaßten Erinnerung jenes zauberhafte Gemälde wieder vor Augen geführt. Gewiß mit hingebender Liebe und Begeisterung haben Sie sich in die Heimat des großen Volks, dessen Geschichte Sie zu schreiben unternommen, eingelebt, mit meisterhafter Darstellung den Rahmen der Vergangenheit aus dem Bilde der Gegenwart hervorgehoben. Dies ist Ihnen nicht minder in der Beschreibung der Wohnsitze der Völker des westlichen Mittelitaliens im letzten Abschnitte gelungen, und hier besonders verdanke ich Ihnen die meiste und erwünschteste Belehrung. An solcher hat es nun auch keineswegs in den andren eigentlich historischen Abschnitten des Buchs gefehlt; doch darf ich Ihnen nicht verhehlen, daß es mir nicht gegeben ist, meinen historischen Glauben lediglich auf Autoritäten, wie Dionysius2 und Virgil, zu stützen oder zu erweitern. Mir hätte es richtiger und thunlicher geschienen, wenn die historischen Sagen, welche sich an die trojanische Colonie knüpfen und von da weiter bis auf Roms Gründung und weiterhin fortsetzten in ähnlicher Weise, wie die ältesten lateinischen Sagen im zweiten Abschnitt, behandelt worden wären. Einen historischen Kern will auch ich nicht läugnen, aber jede positive Feststellung scheint mir bedenklich, bleibt eben nur subjectiver Glaube, den ein Historiker als wirkliche Geschichte vorzutragen, meiner Ansicht nach, allemal nicht berechtigt ist. Damit wird der hohen objectiven Bedeutung des römischen Volksglaubens nicht das Mindeste entzogen, denn die große thatsächliche Wirkung desselben auf die späteren Einrichtungen des Staats wie des Cultus, so wie auf die Motive der Handlungen wird damit gar nicht hinweggenommen; aber zu stark ist doch die Zumuthung, daß wir selbst sogar den Glauben der Römer, um ihre Geschichte zu verstehen, annehmen sollen. Hier entscheidet, meines Bedenkens, nicht sowohl die Wahrscheinlichkeit oder Unwahrscheinlichkeit der berichteten einzelnen Thatsachen, als die Sagenhaftigkeit des Ganzen in Ton und Färbung, wie in den einzelnen Zügen, wo den historischen Kern herauszuschälen rein unmöglich ist. Darum sollen wir die Sage als solche bestehen lassen und uns damit begnügen, den Geist und Charakter, die Motive und die Wirkung derselben als das allein Werthvolle herauszuheben.

Beiläufig gesagt, hätte ich die Expedition des Cortes gegen Mexiko (welches übrigens nicht im Jahr 1425, wie S. 180 und 189 steht, sondern 1521 erobert wurde, so daß die im Jahr 1325 gegründete Stadt eine beinahe zweihundertjährige Dauer erreichte) als historische Analogie gebraucht, da Cortes und seine Spanier doch eine ganz andere Überlegenheit gegen die Mexikaner mitbrachten, als die Troer gegen die kaum minder waffengeübten italienischen Völkerschaften, besessen haben könnten; sondern passender wohl etwa die Gründung des normannischen Reichs in Unteritalien im 11. Jahrhundert, die von einer sehr geringen Zahl normannischer Pilger, die sich an den Kämpfen der Griechen, Langobarden und Saracenen betheiligten, den Anfang nahm. –

Die beständige Festigkeit des Volksglaubens entscheidet mir für die historische Grundlage in der römischen Sage so wenig, wie in den unzweifelhaft fabelhaften Sagen des Mittelalters z. B. der italienischen Städte über ihren Ursprung, Abstammung ihrer ältesten Geschlechter usf., welche auch nicht bloß von den späteren Chroniken erfunden waren, sondern durchaus im allgemeinen Volksglauben wurzelten, in die Familientraditionen übergingen, auf Denkmäler sich übertrugen usf., vgl. z. B. Dante u nd besonders Ricordano Malispini für die florentinische Sage.

Doch hierüber wäre viel zu sagen. Ich will nur noch erwähnen, daß mir besonders dankenswerth erschienen ist, was Sie über Herkunft und Charakter der Etrusker, gestützt auf Denkmäler, beigebracht haben; ebenso was über die pelasgischen Bauwerke nach eigener gründlicher Anschauung dargethan ist. Hierin lassen sich allerdings wichtige historische Anknüpfungspunkte finden, die jedoch nur mit Vorsicht für die sagenhaft überlieferte Geschichte zu benutzen sind.

Ich würde für den Umfang eines Briefes zu weitläufig werden, wenn ich Alles berühren wollte, was mir des Lobes würdig erscheint oder wogegen ich eine Kritik erheben möchte. Ohnehin könnte ich aus dem schon erwähnten Grunde mein Urtheil meist nur als ein bloß subjectives geben, da ich mich zu einem eigentlich wissenschaftlichen Urtheile, noch dazu aus dem Stegreif, über das vorliegende Buch nicht befugt fühle. – Noch bemerke ich aber in Beziehung auf das, was Sie über Unglauben und Zuchtlosigkeit unseres Zeitalters schriftlich geäußert, daß ich hierin zwar im Allgemeinen mit Ihnen übereinstimme, neben dem Schatten aber das Licht nicht übersehen möchte, und daß ich in unserem Zeitalter so wenig wie in einem anderen die höhere göttliche Führung und Fügung vermisse, wohingegen ich an allem Heil und Erfolg unseres Thuns und Strebens verzweifeln müßte, wenn wir der kritischen Zerstörung, die wir vor Augen haben, nichts Anderes entgegenzusetzen hätten, als die vergangenen Formen, nicht sowohl des Glaubens, der seinem göttlichen Inhalte nach ewig ist, als des Lebens und Denkens einer früheren Zeit. Ich glaube auch an eine schöpferische Kraft der unsrigen, und der Kriticismus hat nun wohl seine Zeit ausgelebt. Auf die Fortsetzung Ihres Buchs bin ich um so mehr gespannt, als sich dieselbe auf festerem historischen Boden bewegen wird, wo Ihre ausgezeichnete Kunde des Landes und seiner Denkmäler gewiß viel neues Licht über die Geschichte und die Zeugnisse der Schriftsteller verbreiten wird. Angemessen würde es mir übrigens erscheinen, wenn in der Vorrede gesagt würde, wem von beiden genannten Verfassern die einzelnen Abschnitte angehören. Auch kann ich den Wunsch nicht unterdrücken, daß es Ihnen gefallen möchte, die bloß kritischen Untersuchungen, die wesentlich philologischen oder juristischen Excurse mehr von der historischen Darstellung zu sondern, um den Zusammenhang derselben nicht zu oft zu unterbrechen und damit den Eindruck zu stören. Doch das wird sich weiterhin von selbst gebieten! –

Schließlich spreche ich den Wunsch aus, daß Sie in meinen geringfügigen Ausstellungen nicht einen Beweis von Eitelkeit oder Tadelsucht, sondern meines aufrichten Interesses an Ihren ebenso wichtigen als verdienstlichen Werk erblicken möchten, so wie die Bitte, daß Sie mir fernerhin ein freundliches Andenken bewahren wollen. –

Hochachtungsvoll
Carl Hegel.