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Karl Hegel an Georg Gottfried Gervinus, Rostock, 30. Dezember 1853

Dein freundlicher Brief vom 23. vorigen Monats1 hat mir eine große unerwarteten Freude gemacht. Wie bist Du doch noch so ganz der Alte, unverändert an Geist und Sinn. Glaube mir, daß ich niemals anders von Dir gedacht habe, und das Gerede, von dem Du schreibst, hat gar nichts zu bedeuten und keinen andern wirklichen Grund, als daß meine Mutter Euren Besuch erwartete, nicht weil sie einen Anspruch darauf zu haben glaubte, sondern nur, weil er ihr angekündigt worden war. Dies, dasselbe was ich von ihr schon gehört hatte, schreibt mir neuerdings auch mein Bruder, der gleichfalls Dich seiner unveränderten Verehrung und Liebe versichern läßt und der sich ernstlich vorgenommen hatte, Euch zu besuchen, aber gleichfalls bis zu Eurer plötzlichen Abreise durch überhäufte Arbeiten davon verhindert war. Diese redliche Seele, gewiß eine der besten, die es auf der Welt gibt, theilt sich in die Pflichten gegen die oft kranke und schwache Mutter, die eigne Familie2 und deren heimgewordene Verwandten und Bekannten und endlich in die eines nicht leichten Amtes3, und versieht alle mit gleicher Gewissenhaftigkeit, Ruhe und Ausdauer. – Ich wüsste nicht, daß ich je in Gedanken Dich irgend eines Versäumniß gegen mich angeklagt hätte, und sehe fast mit Verwunderung, wie genau Du es damit nimmst, oder wie treu Dir Dein Gedächtniß in Vorführung solcher Möglichkeiten ist. Doch bin ich der Veranlassung sehr dankbar, die mir Deinen lieben Brief4 verschafft hat, weil ich so lange nichts von Dir gehört hatte und nicht wußte, wie es Dir und Deiner lieben Victorie, wenn der vertrauliche Ausdruck erlaubt ist – geht. Wie so oft war ich in dieser Zeit mit Dir und Deinen Gedanken und bitteren Erkenntissen beschäftigt! In Deiner Einleitung fand ich Dich wieder auf derselben Bahn und in dem gleichen Gedankenzuge, den Du schon in Erfurt Dir vorgezeichnet, und das Grundschema, das historische Gesetz, hast Du mir schon im Jahr 1835 in Heidelberg vorgetragen. Nur die Anmerkung war neu und für mich auch jetzt noch zu kühn. Eine Übelnehmerei mußtest Du wohl bei mir voraussetzen, um Dir zu erklären, weshalb ich Dir auf das, wie Du sagst, zugeschickte corpus delicti rei Antwort schuldig blieb. Doch war ich unschuldig daran, weil Dein Verleger, der es mit Deinen guten Absichten dieser Art sehr wenig genau zu nehmen scheint (wie ich sonst schon erfahren) mir in der That nichts zugeschickt hat. Dein Prozeß5 erfüllte mich mit Staunen, Ekel und Überdruß, wie so vieles Andere in dieser Zeit, und ich beklagte Dich viel und oft, daß Du diese bittere Hefe noch auszutrinken hattest, während wir Anderen uns auf uns selbst zurückziehen konnten. Gewiß ich hätte nicht zu denen gehört, die sich um Deutschlands willen gefreut hätten, Dich verurtheilt zu sehen; schon der Anfang des Prozesses schien mir der Schande zu viel. Aber ich sagte immer zu Dir das feste gute Vertrauen, daß Du Dich nicht durch diese Erfahrungen so wenig als durch die früheren, würdest zu leidenschaftlicher Stimmung aufreizen lassen, oder gar, wie die Zeitungen wissen wollten, dem deutschen Boden den Rücken zu kehren solltest. Du wirst auf ihm bleiben, das weiß ich, so lange man Dir nur Leben und Freiheit lassen will. Für die Ausführung Deines größeren Werkes wünsche ich Dir aushaltende Kraft; festen Sinn und unbekümmerten Muth brauche ich Dir nicht zu wünschen, davon kannst Du den Meisten noch abgeben. – In anderer Art haben wir, meine Frau und ich, uns schon seit geraumer Zeit, all abendlich fast, mit Dir beschäftigt, nämlich mit Deinem Shakespeare, den wir zusammen mit dem Original ordentlich und gründlich studieren. Mit Entzücken haben wir oft Deine sinnige Auffassung und freie Zergliederung der Charaktere, die so viele überraschende Aufschlüsse gewährt, gelesen und uns zu eigen gemacht. und nicht selten begegnet mir eine Stelle, die so ganz aus Dir selber kommt, weil sie mich an manche Beziehungen Deines früheren Lebens erinnert. Wir sind Dir dankbar für viele schöne Stunden geistigen Genusses.

Du willst auch von mir und meiner Familie hören. Das häusliche Glück, das ich mir immer wünschte, ist mir in hohem Maß zu Theil geworden, wofür ich Gott nicht genug danken kann. Meine Frau würdest Du leicht als eine ganz süddeutsche Natur erkennen; heiter und unbefangen nimmt sie das Leben weit weniger schwer als ich, und verbindet mit ihrem frohen kindlichen Sinn die Innigkeit und Herzlichkeit einer echt weiblichen Natur. Besäße sie nicht diese Eigenschaften, so wäre es bei aller Liebe, die sie zu mir hat, ein Wunder, daß es ihr hier so wohl gefällt. Denn gar verschieden sind die Menschen und das Land ihrer Heimat, wo sie einen so schönen Familienkreis verlassen hat. Der Himmel hat uns zwei liebliche Töchterlein geschenkt, das ältere über 2 ½, das jüngere 9 Monate alt, die so frisch und fröhlich sind wie die Mutter. Wir haben in diesem Frühjahr ein Haus vor der Stadt bezogen, an welches sich ein kleiner Garten nach dem Wallgraben zu anschließt. In der Freude an den Kindern, an der geräumigen Wohnung, der freundlichen Umgebung erschien uns dieser Sommer schöner als irgend ein schon da gewesener. Wir empfingen die Besuche unserer lieben Verwandten, meiner Mutter, die noch einmal wenn auch mit vielen Beschwerden die Reise wagte, meiner Schwiegereltern, meines Bruders. – So ist das Glück meines häuslichen Lebens, wobei wir wenige Ansprüche sonst nach Außen machen; auch wäre da wenig Ansprechendes oder geistig Anregendes zu finden. – Von meinen Studien habe ich, ich muß es gestehen, zu wenig nach außen hin kund gegeben. Doch bin ich darum nicht weniger fleißig gewesen. Seitdem mich die Politik der Gegenwart in den Jahren 1848 und 1849 hingenommen6, hatte ich keine Neigung mehr Alles das, was ich schon im Mittelalter vorgearbeitet, meine Geschichte der Deutschen Stände und eine meklenburgische Geschichte weiter fortzusetzen.7 Ich fühlte das Bedürniß mit meinen historischen Studien der Gegenwart näher zu kommen, um mir es selbst zu Dank zu machen. Und da fehlten mir wieder so viele vorbereitende Studien, namentlich die nationalökonomischen und staatswissenschaftlichen. Ich habe mich über dieses Feld hergemacht und es so weit durchgearbeitet, daß ich nebenbei Vorlesungen darüber halten kann, zur weiteren Bearbeitung zieht mich dieses Gebiet nicht an; aber für die Beurtheilung nationaler Entwicklung und historischer Verhältnisse habe ich damit viel gewonnen. Mit besondrer Vorliebe habe ich davon, auf diese Art, nur gerüstet, seit dem vorigen Frühjahr englische Geschichte geschrieben, zuletzt auch englisches Recht; und suche ich mich hier gründlich einzuarbeiten. Den Deutschen Dingen, in sofern sie auf die Gegenwart hinleiten, weiß ich kein Interesse mehr abzugewinnen, und wende ihnen daher lieber gänzlich den Rücken. Doch bin ich eben jetzt äußerlich dazu veranlaßt worden, wieder auf meine Städteverfassung zurückkommen8, und augenblicklich mit einem Aufsatz über Deutsche Städteverfassung im Mittel-Alter beschäftigt.9 Hier hast Du im kurzen mein Thun und Treiben.

Wenige Wochen vorher, ehe ich Deinen lieben Brief erhielt, war Georg Beseler bei uns von einer kurzen Reise über Berlin und Braunschweig zurückkehrend. Er war recht wohl auf und zugänglicher für mich als in seinem parlamentarischen Leben in Erfurt10 und in Berlin. Er meinte, Du seist ihm einen Brief schuldig. – Von dem Bruder Wilhelm Beseler höre ich neuerdings durch seinen Schwager Kierulff, der uns vor kurzem verlassen hat, daß es ihm gut gehe und daß er durch den guten Fortgang der Buchhandlung, bei der er beschäftigt ist, auch der pecuniären Sorgen überhoben sei, was mich sehr freute, besonders nach dem, was Du mir vorher über ihn geschrieben. –

Ich schreibe dieses Ende meines Briefs an dem heutigen Sylvester Abend, der vorzugsweise zur Selbstbetrachtung und Erinnerung an die Vergangenheit auffordert. Einen Theil meiner Selbstbetrachtung habe ich diesmal Dir, mein lieber Gervin, gewidmet, und Erinnerung an die vergangenen Tage führt mich nicht nur heute, sondern oft auf Dich und Deine Victorie zurück. Sollten wir uns auch nicht wieder im Leben begegnen, so bleibt Ihr mir doch immer in geistiger Nähe und so bleibe ich Euch doch immer, wie in alter Weise, treu. Das Reisen macht sich mit Frau und Kindern nicht mehr so leicht, wie sonst. Kann etwas im Haushalt, für den das Einkommen nur eben zureicht, erübrigt werden, so darf ich meiner Susi den Besuch der Schwiegereltern in der Heimath nicht versagen; und ich für mich hätte vor Allem den Wunsch, einmal nach England zu kommen. Dort möchte ich auch Dir, und wenn es sein könnte, Dir und Deiner Frau am liebsten begegnen. Solltest Du einmal wieder die Absicht haben, dorthin zu reisen, so unterlaß nicht mir es zu schreiben. – Möge das morgen beginnende Jahr Euch viel Freude und innere Befriedigung bringen! Möge es jedenfalls friedlicher für Dich ablaufen, als das alte. Und stehe fest, mein wackerer Gervin.

Sta come torre ferma che non crolla
Giovanni la cima per soffior de’venti!
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Meine Frau erwiedert mit mir von ganzem Herzen die willkommenen freundlichen Grüße der Deinigen. Ich glaube, die beiden würden sich gut miteinander verstehen. Ich grüße Frau Ida Weber und ihre Mutter, wenn sie noch, wie ich hoffe, unter den Sterblichen weilt.

Für immer
der Deinige
Carl Hegel.