Immanuel Hegel an Karl Hegel, Berlin, 21. Mai 1855
Deinen letzten Brief2, welcher uns das Nähere über Deine Reise zu uns mittheilte, haben wir heute morgen erhalten. Da Du hiernach nicht länger als bis Sonntag nach Pfingsten3 bleiben kannst und Dein Aufenthalt daher, wenn Du erst am Dienstag abreist, eigentlich nur 4 Tage dauern würde, so ist es uns sehr auf das Herz gefallen, daß wir durch unseren Besuch in Potsdam die Ursache einer Verkürzung der kostbaren Zeit, in welcher Du noch des Zusammenseins mit unserer lieben Mutter – vielleicht zum letzten Male – Dich erfreuen wirst, sein sollen und haben auch nicht den Muth gehabt, der Mutter zu sagen, daß Du erst am Donnerstag4 ankommen würdest, sondern haben den Montag als den Tag Deiner Ankunft ihr bezeichnet. Unsere dringende Bitte geht demnach dahin, daß Du schon am Montag, den zweiten Feiertag, Dich aufmachen und herkommen möchtest und glaube ich, daß in denen Verhältnissen kein Hinderniß ent- gegensteht, daß ich vielmehr Deinen eigenen Wünschen damit entgegen komme. Friederike wird mit Rücksicht auf Trinklers, welche zu Pfingsten nach Potsdam kommen werden, dann schon am Sonnabend hinüberfahren; ich folge am Sonntag Mittag und kehre demnach mit den Meinigen am Montag Vormittag hierher zurück, um Dich mit Deinem Töchterchen zu empfangen.
Wir freuen uns alle herzlich darauf. In dem Befinden der theuren Mutter hat sich in den letzten Tagen nichts wesentliches verändert. Sie schläft viel; dagegen ist der Husten in seiner alten Macht wieder eingetreten und das Fieber kommt häufig wieder. Sie ist recht schwach, doch bleibt es noch zu vermuthen, daß ihre Kräfte es so weit bis jetzt ausgehalten haben.
Wir feiern heute den Geburtstag unserer Marie; die gute Mutter schenkte ihr eine Bibel, in welche sie mit großer Anstrengung einige Segenswünsche hineingeschrieben hatte. Es war ergreifend, wie sie heute morgen dies Andenken ihr mit ihrem Seegen tief bewegt über- gab. – Da Ihr in diesen Tagen, wie mir Friederike sagte, Eures liebe Annchens Geburtstag5 feiern werdet, so bringe ich Dir zu diesem Feste unsre herzlichsten Glückwünsche.
Die Eltern sind heute mit Clara zu unserer Geburtstagsfeier herübergekommen und tragen mir auch freundliche Grüße an Euch auf. Meine herzlichen Grüße der lieben Susette.
In der Hoffnung baldigen Wiedersehens
Immanuel
den 21 Mai 1855.