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Immanuel Hegel an Karl Hegel, Berlin, 6. Juli 1855

Lieber Karl!

Unsere theure Mutter ist heute Vormittag um ½11 Uhr sanft und seelig entschlafen.2 Gott sei gelobt und gedankt, der sie nun in Frieden zu sich genommen und an ihr sich wunderbar verherrlicht hat. Er sei gedankt, daß Er ihrem Leiden ein Ende gemacht und sie ohne Kampf hinübergeführt. Ihr Bewußtsein war bis heute Morgen ganz ungetrübt; nur wenn sie schlummerte und träumte, sprach sie undeutliche Worte. Sonst hörte sie mit innigem Gefühl den tröstlichen Sprüchen und Worten zu, welche wir ihr vorsprachen und vorlasen und indem sie sonst auch jeden, der sie umgab, erkannte, sah sie uns mit liebevollem Blick an und faltete oft ihre Hände zum Gebet. So athmete sie auch ihre letzten Augenblicke mit offenem Blick und mit gefalteten Händen. Da sie gestern Abend einen ruhigen Schlaf hatte, so verließ ich sie mit Friederike und begaben uns zur Ruhe; heute morgen gegen 6 Uhr ließ uns die Tante aber rufen und waren wir dann unausgesetzt bei ihr.

Ich habe Dich durch den Telegraphen benachrichtigt3, damit Du, wenn Du die theure Hülle der geliebten Mutter mit uns bestatten willst, noch morgen abreisen kannst. Doch wird die Beerdigung vermuthlich wohl erst am Montag4 früh Statt finden können.5 Ich habe Dir über den Verlauf der letzten Tage gestern ausführlich geschrieben.6

Nun laß uns, lieber Bruder, treu zusammenhalten und ihres Vorbildes in unserm fernern Leben eingedenk sein, damit ihr Seegen auf uns ruhe und ihr Geist nicht von uns weiche!

Friederike reicht Dir und Deiner Susette mit mir schwesterlich die Hand.

Dein
Immanuel