Eben heute wollte ich ganz gewiß an Dich schreiben, wie ich mir schon lang vorgenommen, und eben heute erhalte ich über Greifswald die so erfreuliche wie überraschende Nachricht von Eurem Kommen im nächsten Monat, welche ich vor Allem hier bei uns nicht zu einem Verfehlen möchte werden lassen. Unsre Abreise von hier verzögert sich durch das längere Angegriffensein meiner Frau in Folge eines Wochenbetts vom vorigen Monat1 vermuthlich bis zum 12. oder 13 September das Aufbrechen soll am 8. beginnen, nämlich das Einpacken, Besuche machen und dergleichen: bis dahin trefft Ihr uns also jeden Falls in völliger Ordnung und herzlicher Bereitschaft Euch, versteht sich als Gäste in unserem Hause (Friedrich Franzstraße vor dem Thore), zu empfangen. Und würden wir gern noch einige Tage länger auf Euch warten, wenn wir nur die Gewißheit Eures Kommens hätten, auf die ich um so mehr hoffe, da wie ich vernehme Eure Abreise schon auf den 1. September festgesetzt ist. Lieber Gervin und Sie, meine beste Frau Victorie, wie würde es mich und wie sehr auch meine Frau Susanna freuen, Euch an unserem häuslichen Herde einmal in traulicher Weise zu begrüßen! post tot fata – uns der alten schönen Zeiten in Heidelberg, Göttingen, Rom zu erinnern. Ob es uns wohl so gut werden möchte – ich bin darüber in ungeduldiger Spannung und erwarte recht bald eine gewisse Nachricht von Dir, mein lieber Gervin, und möchte Dich herziehen mit meinem Verlangen, wiewohl ich weiß, daß auch noch Andere Ansprüche an Euch haben, die Euch auf dem Wege hierher aufhalten werden. Übrigens will ich Euch darauf vorbereiten, daß Ihr mich nicht wenig verändert finden würdet, wie ich wahrscheinlich auch Euch in etwas; die Leute sagen, ich sei älter geworden und noch trockener als sonst; ich fühle es selbst und fühle vor Allem, daß es gut und hohe Zeit für mich ist, daß ich hier wegkomme – ich habe eine physische Ungeduld darauf, wie damals, als ich zuerst das öde Berlin verließ und zum ersten Mal in Heidelberg meines Lebens froh wurde; und ich hoffe, es soll auch jetzt wieder in Erlangen ein neues frischeres und freieres Dasein für mich beginnen. Vielleicht werde ich mich auch dort wieder verjüngen, wenn Gott mir die Kraft und das Gelingen gibt, wie es mir am Willen und Muth dazu nicht fehlen soll. –
Da dieser Brief Dich noch in Heidelberg treffen wird, so will ich Dir gleich meine letzte Arbeit mitsenden, damit Du siehst, womit ich mich zuletzt beschäftigt habe. Sie ist von der Art, wie sie hier auf diesem Boden gedeihen kann, mittelalterlich und abgewandt von der Gegenwart, nüchtern und rein wissenschaftlich – ein Abschluß mit umfassenderen Studien, denen ich mich neben staatswissenschaftliche, in den letzten Jahren hingegeben habe. Wie ungleichartig den wertvollen Gaben, die ich von Deiner Freundschaft in den beiden Bänden Deines 19. Jahrhunderts mit Dank empfangen, mit vielseitiger Belehrung ausgeschöpft habe.
Übrigens ist auch der Stoff Deiner Wahl eben kein dankbarerer, gewiß kein erfreulicherer. Was für ein Bild sittlicher Verworfenheit und schnöder Selbstsucht, gewissenlosen Leichtsinns bei den Höfen und Regierungen, Fürsten und Staatsmännern, stellst Du unserer Gegenwart von ihrer jüngsten Vergangenheit vor die Augen! Da ist nichts, wobei man mit Wohlgefallen verweilen könnte, kein Zustand, kein Charakter – man zweifelt an der Schlechtigkeit dieser Wirklichkeit und man findet sich fast versucht, der Wahrheit Deiner Schilderung oder der Richtigkeit Deines Urtheils zu mißtrauen. Darum wirst Du auch nur wenig Dank finden, mein lieber Gervin, bei der großen Masse des Publicums, welches dieses liefert; denn man sieht sich nicht gern in solchem Spiegel, der die Schäden und Gebrechen der Zeit so schonungslos aufdeckt, ohne die mancherlei Milderungen, welche sie in ihrer natürlichen Erscheinung erträglicher machte. Und doch ist es ein nothwendiges Werk, welches Du begonnen hast, und ein solches, welches den Lohn nicht außer sich zu suchen braucht. Ich erkenne seine außerordentliche Schwierigkeit und wünsche Dir von ganzem Herzen zu dem kühnen Muth, womit Du es begonnen, auch die fortdauernde Kraft es zu vollbringen. –
Da ich oben des Wochenbetts in meinem Hause gedacht habe, ist es auch nicht zu verschweigen, wonach gewiß zuerst Frau Victorie fragen wird, was es uns gebracht habe? – Das erste Söhnlein nach drei Mädchen, wovon Ihr aber schon zwei nicht mehr hier antreffen werdet, da sie mit der Großmutter bereits voraus nach Nürnberg sind – dieser kleine Georg hat uns große Freude gemacht. Kommt nur recht bald ihn und uns zu sehen! ich erwarte mit Spannung Deine Nachricht und wage noch kaum die Erfüllung meiner Wünsche zu hoffen. Du wirst doch auch gewiß Wunderlich benachrichtigen, wo er Euch etwas sehen könnte, im Fall Ihr nicht Lübeck berührt, vielleicht in Hamburg; doch ich weiß noch nichts von Eurem ganzen Reiseplan. Wunderlich ist im vergangenen Winter expreß deshalb nach Berlin gereist, um Dich zu sehen, als er gelesen hatte, daß Du dort seist; kam aber ein paar Tage zu spät. Seid tausend Mal gegrüßt