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Immanuel Hegel an Karl Hegel, Berlin, 28. Mai 1857

Lieber Karl!

Deine Nachrichten von Onkel Gottlieb haben uns tief erschüttert; welches schwere Unglück1 ist in so kurzer Zeit nach Gottes Fügung über dieses Haus verhängt worden. Es gehört die große Glaubenskraft dazu, welche ihre Herzen erfüllt, um solche Schläge mit voller Ergebung ertragen zu können. Und wenn sie auch festhalten an diesem Anker und dem ewigen Grunde göttlicher Liebe und Barmherzigkeit, so daß sie nicht verzagen und verzweifeln, so werden sie doch dabei blutige Thränen weinen. Ich habe an Onkel Gottlieb nach dem ersten Todesfall2 geschrieben; jetzt versagt mir in der That die Feder, und ich könnte auch nur in der Sache dasselbe wiederholen. – Wilhelmine wird nun um so mehr ihre nothwendige Stelle im elterlichen Hause finden und eine Stütze der Mutter sein. Helene3 sah ich zuletzt vor drei Jahren in Erdmannsdorf in Schlesien; ihr Wesen schien mir damals noch nicht recht entwickelt zu sein. Gott gebe, daß der schreckliche Unfall mit dem kleinen Siegmund ohne schwere Folgen bleibe; es treten in solchen Fällen oft erst spät traurige Nachwirkungen im Gehirn oder im Rückgrat ein.

In Betreff der Erbschaft der seligen Tante Sophie danke ich Dir für Deine weiteren Unternehmungen; was Du in dieser Angelegenheit im Einverständnis mit Onkel Siegmund für recht, billig und schicklich erachten wirst, werde ich auch meinerseits in allen Fällen billigen.

Ueber Streitberg erwarte ich Deine weiteren Nachrichten. Wenn Du mir den Titel des erwähnten Büchleins angeben willst, so kann ich es mir auch wohl auch hier verschaffen. Es kommt hauptsächlich auf gute Molken und gesunde Luft an; daneben ist uns freundliche Natur sehr erwünscht. Allerdings ist auch bei einem solchen Aufenthalt ein gesundes und behagliches Quartier von großem Werth, namentlich für einen Patienten, der vielleicht viel zum Aufenthalt im Zimmer besonders bei schlechtem Wetter angewiesen ist. Freilich würde Reichenhall noch zweckmäßiger sein; indessen ist doch die Reise dahin und der dortige Aufenthalt viel theurer. – Leider werden wir eine andere Zeit als Juli und Anfang August nicht wählen können; wir sind bei dieser Wahl von vielen Bedingungen abhängig und diese vereinigen sich alle dahin, uns für diese Zeit zu bestimmen und namentlich die Möglichkeit meines Urlaubs, Ferien der Kinder, Unterbringung derselben bei den Eltern in Potsdam, welche auch gern im August eine kleine Erholungsreise antreten möchten. Da Du hingegen im Juli und bis Mitte August an Erlangen gebunden bist, so werden wir freilich auf einen gemeinschaftlichen Aufenthalt in Streitberg verzichten müssen. Doch werden wir immerhin auf kürzere Zeit zusammenkommen können. – Wir haben die Hoffnung, unsere Schwester Clara mitnehmen zu können; sie selbst hat große Lust, Molken sind auch ihr vom Arzt empfohlen, die Eltern scheinen dabei nicht abgeneigt zu sein, und für Friederike wäre es eine große Annehmlichkeit.

Friederike hat sich in der letzten Zeit nicht so erholt, als ich gehofft hatte; sie war an den letzten warmen Tagen zweimal bei ganz ruhiger Luft im Thiergarten etwas spazieren gegangen; sie wurde davon auch nicht ermüdet und angegriffen, bekam aber doch einen grippeartigen Katarrh, der sie wieder mehrere Tage ans Bett fesselte. Es zeigt dies ihre große Empfindlichkeit und Verwöhnung, und müssen wir daher überall große Vorsicht beobachten, da sich gleich ein hartnäckiger Husten einstellt. – Clärchen ist nun schon wieder von den Masern aufgestanden und wandert im Zimmer vergnügt nach alter Art umher. Sie hat es auch leicht überstanden. Bei Willi sind noch keine Anzeichen vorhanden; wir wollen ihn am Sonnabend nach Potsdam auf die Pfingstreise schicken4, wohin ihm Marie gestern schon in Begleitung der Eltern vorausgegangen ist. Wir werden das Fest ruhig in Berlin zubringen, schon aus dem Grund, weil Clärchen erst in der nächsten Woche das Zimmer wird verlassen können.

Die treue Clarine geht nun auch in einigen Tagen ab, nachdem sie uns 6 Wochen lang schwesterlich beigestanden hat. Ihre Stelle wird zunächst von einer andern Freundin Malchen Conrady eingenommen werden, die jetzt in Potsdam bei Flottwells zum Besuch ist; sie ist auch ein sehr liebes und jeder Zeit hülfreiches Wesen, die uns Beiden sehr lieb und werth ist.

Die Eltern trugen mir gestern die herzlichsten Grüße an Dich auf, und nehmen gleichfalls den innigsten Antheil an der schweren Heimsuchung unseres lieben Onkels Gottlieb. Theodor ist vor einigen Tagen nach Schleitz abgereist, um hier den letzten Versuch der Heilung zu machen. Herrmann dagegen tritt seinen Urlaub als Militair an, und wird nächstens sich zu verschiedenen tüchtigen Landwirthen begeben, um praktische Studien für seinen künftigen Beruf zu machen. Pauline begiebt sich zunächst nach Potsdam, bis ihre Mutter von Gastein zurückkehrt und sie nach Danzig mitnimmt.

Friederike trägt mir viele herzliche Grüße an Dich, die liebe Susanna und die lieben Kinderlein auf.

In treuer Liebe

Dein Immanuel