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Immanuel Hegel an Karl Hegel, Berlin, 9. März 1858

Lieber Karl!

Du hast Dich in ein langes Stillschweigen gehüllt und darf ich wohl annehmen, daß Du in diesem Winter mit Deinen Vorlesungen und sonstigen Arbeiten sehr beschäftigt gewesen bist. Da nunmehr aber die Zeit der Ferien herannaht, so wirst Du damit auch für Deine Correspondenz eine freiere Muße gewinnen. Den letzten Brief schriebst Du mir am Anfang Januar1, als Du den Thermometer für den Onkel Siegmund besorgt zu haben wünschtest. Es interessirt mich zu erfahren, ob Du damit zufrieden gewesen bist. Näheres aus Deinem Hause und aus Nürnberg meldete uns ein Brief der lieben Susette und hat dazwischen auch Deine Schwägerin Luise über die Verlobung der Cousine Wilhelmine in München geschrieben, von welcher letzteren wir nur durch eine simple Verlobungskarte benachrichtigt waren. Wir haben uns über dises Ereignis aber sehr gefreut, als einen erquicklichen Sonnenstrahl in ein vielgeprüftes Haus2, und man darf auch hoffen, daß das unruhige Herz unsrer guten Cousine damit einen Haltepunkt gewonnen, und in dieser Liebe seine volle Befriedigung finden werde.

In meinem Hause sind diese winterlichen Monate zwar mit mannigfacher Schwachheit, doch im Ganzen ohne wesentliche Störung vorübergegangen. Friederike hat sich von gesellschaftlichem Leben fern gehalten und fühlt das Bedürfnis, durch ein striktes und gleichförmiges Leben ihre Kräfte zu schonen. An Husten und Katarrh hat es in den letzten Wochen bei ihr und den Kindern nicht gefehlt; indessen sind auch diese kleineren Uebel in der Abnahme begriffen. Wir haben seit mehreren Wochen permanent ein sehr kaltes Wetter mit scharfem Wind gehabt; jetzt stürmt es mit gewaltigem Schneefall und hoffen wir, daß das Frühjahr nun endlich durchbrechen werde.

Du wirst vermuthlich auch von Rosenkranz seine Schrift zur Vertheidigung des Vaters3 gegen Hayms Beurtheilung4 desselben zugesandt bekommen haben; sie ist leicht geschrieben, und könnte dem Haym sowohl in seiner unübertrefflichen Bosheit, als in seiner Charakteristik schärfer und gründlicher zu Leibe gehen; sie ist aber doch wohlthuend als ein gemüthlicher Ausdruck seiner treuen Gesinnung, welcher es Bedürfnis war, sich ohne langen Aufenthalt über die gallische und spitzfindige Bosheit entrüstet auszusprechen. Ich habe nach dem ersten flüchtigen Überblick das Buch inzwischen recht gründlich durchgelesen, und bin auch erstaunt gewesen über das durchgehende Bestreben, den Charakter des Vaters überall in dem unsinnigsten und zweifel- haftesten Licht erscheinen zu lassen, und ihn sowohl in der Behandlung der Wissenschaft, als in seinem sonstigen und namentlich politischen Verhalten Motive und Handlungen zu unterlegen, welche ihm durchaus fern lagen, während doch gerade seine Ehrlichkeit, seine wache Gewissenhaftigkeit von Allen, welche ihn kannten, verehrt und anerkannt wurde. Es könnte der bitterste Gegner diser Philosophie den Haym in gehäßig insinuirender und verdrehender Auslegung der inneren Motive nicht übertreffen. Es ist die Blindheit und Gereiztheit seines politischen Literatenthums und das Selbstgefühl seiner Subjektivität, welche ihn zu dieser Feindseligkeit getrieben haben und ihn insbesondere zu einer unbefangenen Würdigkeit und historischen Auffassung des Charakters und der Verhältnisse, in denen er gelebt hat, unfähig machen. Es ist mir lieb, daß ich ihm auf die Zusendung seines Buches gar nicht geantwortet habe. Dagegen habe ich Rosenkranz für die Mittheilung seiner Schrift herzlich gedankt, und ihm auch erklärt, wie es gekommen, daß wir den Haym noch bei seinem Werke mit Materialien unterstützt haben. War es seine Absicht, eine solche Polemik zu führen – was er jedoch weder in seinen Briefen, noch bei unserer persönlichen Begegnung mich nur im entferntesten merken ließ – so mußte ihn eine ehrenhafte Gesinnung davon abhalten, unsere Unterstützung dabei in Anspruch zu nehmen. Es sieht nun doch in der That sonderbar aus, wenn er in der Vorrede sich mit gerührtem Dank der liberalen Unterstützung der Familie Hegels rühmt.5

Eine andere Begebenheit, bei welcher ich viel an Dich gedacht habe, ist die Amtsentsetzung Baumgartens in Rostock, und freue ich mich herzlich, daß Du nicht mehr den unmittelbaren Eindrücken dieses Gewaltstreichs einer fanatischen Orthodoxie und seiner Folgen ausgesetzt bist.6 Letztere werden auf die Urheber schwer zurückfallen, und die scheinen auch bei den lutherischen Theologen anderer deutscher Länder keine Zustimmung und Unterstützung zu finden. In der hiesigen Zeitung „Die Zeit“, welche unter dem Einflusse des Gouvernements steht, wird die Sache Baumgartens mit Einsicht und Wärme verfochten.

Wir waren in den letzten Wochen hier mit dem prinzlichen Vermählungsjubel7 sehr beschäftigt. Der Einzug des jungen prinzlichen Paares war ein großartiges Volksfest, welches die großen und herzlichen Sympathien bei diesem Ereignis bei allen Volksklassen kund gab. Ich habe die junge Prinzessin bei der Soirée des Minister-Präsidenten genau ansehen und beobachten können und mußte ihr anmuthiges Wesen anerkennen. – Der arme König geräth dabei immer mehr in Vergessenheit; sein körperlicher Zustand ist im Ganzen unverändert; jedenfalls zeigt er keinen Rückschritt, sondern eher kleine Merkmale der Besserung im Gedächtnis und in der Klarheit des Bewußtseins, so daß der weitere Verlauf sich noch gar nicht absehen läßt.

In Potsdam sind sie im Ganzen wohl; sie sind aber in Trauer über das unerwartete Ende der jüngeren Schwester des Vaters, der Präsidentin von Bähr in Coeslin, welche nach längerem Leiden an einem Lungenschlage plötzlich gestorben ist. – Adalbert ist noch in Meseritz und Herrmann hat in Danzig die Taufe seines Sohnes gehalten.

Von Friederike, welche bald an Susanna schreiben wird, die herzlichsten Grüße. Meiner lieben Schwägerin und Cousine bringe ich im voraus zu ihrem bevorstehenden Geburtstagsfeste8 meine innigsten Glückwünsche. Von Herzen

Dein Immanuel