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Immanuel Hegel an Karl Hegel, Berlin, 14. August 1858

Lieber Karl!

Nachdem ich seit 8 Tagen mich wieder in Berlin eingelebt und in meinen Geschäften zurechtgefunden, komme ich nun auch dazu, Euch von uns Nachricht zu geben. Dein letzter lieber Brief1 traf uns in dem freundlichen Heringsdorf; wir blieben dort bis zum 5ten dieses Monats; in der letzten Zeit hatten wir viel Regen und gewaltige Stürme; letztere brachten uns ein sehr entgegengesetztes Schauspiel; bei dem ersten Sturm von Land aus Südwest trat die See um 40 Schritt zurück, so daß man bei der Badeanstalt  wegen Mangel an Wasser nicht baden konnte; bei dem zweiten, aus Norden wälzte die See im gewaltigsten Aufruhr ihre Wellem bis zu den Höfen heran. Auf dise Weise hatte auch das schlechte Wetter sein Interesse, und man konnte doch meistens entweder am Strande, oder im Walde sich mit Vergnügen ergehen. Meine Reise nach Rügen wurde mir aber dadurch vereitelt; ich hatte sie auf die letzte Woche verlegen müssen, weil ich vorher während der Abwesenheit von Costenoble von Berlin Geschäftssachen vom Staatsschatz mir nach Heringsdorf nachschicken lassen mußte. Zuletzt war aber das Wetter so wüst, daß ich nicht fort konnte; es that mir namentlich auch um Willi leid, der mich begleiten sollte und sich darauf so sehr ge- freut hatte, und mir selbst hätte in seiner Begleitung der Ausflug viel Vergnügen gemacht. Wir haben dagegen fleißig Seebäder, auch im heftigsten Sturm, genommen, und es ist dies mir und den 3 Kindern sehr gut bekommen. Friederike hat zwar mit etwas Husten und vielerlei Beschwerden ihres Zustands sich geplagt, inzwischen blieb sie doch immer ganz mobil und war auch für den stillen erquicklichen Aufenthalt sehr dankbar. Ich habe fleißig gelesen, darunter auch Mommsen, römische Geschichte2, gegen welche ich zuerst Neigung hatte, vieles auszusetzen, in deren Verlaufe ich jedoch von dem bedeutenden Geist in der Auffassung und Entwicklung bewältigt und außerordentlich gefesselt wurde.

Am Donnerstag den 5ten nach Tisch brachen wir auf, fuhren nach Swinemünde, wo wir übernachteten und am Nachmittag uns an dem mit zahlreichen Schiffen besetzten Hafen umsahen; es ist ein prächtiger Hafen. Am andern frühen Morgen fuhren wir bei regnerischem Wetter nach Stettin, wo wir mehrere Stunden blieben, uns aber bei anhaltendem Regen nicht viel umsehen konnten. Am Nachmittage um 6 Uhr kamen wir hier an und fanden unser Hauswesen in guter Ordnung. Die Reise hatte Friederike ganz gut bestanden, und befindet sie sich im Ganzen, wenn auch mit mancherlei kleinen Plagen behaftet, und öfters angegriffen und der Erholung bedürftig, doch wohler, als bei dem früheren Falle. Nur wenn es so weit ist, wie jetzt wieder in den letzten Tagen, dann fühlt sie ihre Bürde doppelt schwer und kann sie nicht viel prästiren3. Namentlich ist ihr das Schreiben anstrengend, und muß sie daher wegen der Beantwortung von Susannes letztem lieben Brief noch um freundlichen Aufschub bitten.

Von den Eltern Flottwell haben wir sehr entzückende Briefe aus Interlaken erhalten; sie sind in jugendlicher Begeisterung über die Größe und Pracht der Alpen, die sie nun zum erstenmal gesehen. Nach diesen Briefen zu urtheilen hat sich die Mutter in Badenweiler sehr erholt, sowohl in ihren Kräften, als auch in ihrer Stimmung. Sie wollten – Clara mit ihnen – einige Tage in Interlaken verweilen, und dann über Luzern und Zürich und Lindau durch Bayern zurückkehren. Ihrem Reiseplan nach würden sie am 18 dieses Monats in Nürnberg eintreffen, am 19 ten dort bleiben, am 20 ten bis Leipzig fahren und am 21 ten nach Potsdam zurückkommen. Wir haben ihnen geschrieben, daß wir besorgen müßten, daß Siegmund zu dieser Zeit nicht anwesend sein würde, und daß ich auch nicht wüßte, ob Ihr noch in Erlangen verweilen würdet; jedenfalls möchten sie aber im Tucherschen Hause anfragen. Ich mache Dir diese Mittheilung, nicht mit der Zumuthung, deshalb Eure etwaigen Reisepläne zu stören und auszusetzen; wenn Du aber zu jener Zeit noch zu Hause sein solltest, würde es Dir gewiß auch Freude machen, die lieben Alten in Nürnberg zu begrüßen4 und dort unser zu geleiten. Wir schreiben heute noch oder morgen an sie nach Nürnberg poste restante5. Friederike wollte auch noch der Tante Marie Nachricht geben.

Wir haben hier jetzt großen Besuch von Mutter Victoria, von welchem zwar in Berlin selbst wenig zu sehen und zu hören sein wird. Während aber diese Herrlichkeiten hier vorgehen, sitzt der arme alte König, fast vergessen, in Tegernsee. Die letzten Nachrichten lauten ungünstiger, und es schwindet immer mehr die Hoffnung seiner gänzlichen Wiederherstellung bis zur Regierungsfähigkeit. Man glaubt daher, und hält es allgemein für nothwendig, daß im Herbst – wo möglich durch Abdankung des Königs – ein definitives Regiment konstituirt werde. Wir gehen jedenfalls einem wichtigen Wendepunkt entgegen, um so mehr als Neuwahlen6 vor der Thüre stehen, und vermuthlich eine sehr veränderte Landesvertretung ergeben werden. Damit wird dann wohl auch mancher Ministerwechsel erwartet werden; es giebt viele Kandidaten dazu; unter Anderem auch Rudolph von Auerswald – es war vermuthlich dieser, und nicht sein Bruder Alfred, welcher Euch neulich besuchte – ein vollendeter Gentleman und höchst liebenswürdiger Mann, aber jedenfalls besser im Salon und beim Diner, als am Ministertisch. Wenn man nur vertrauen könnte, daß der Prinz von Preußen die richtigen Männer auszuwählen verstünde!

Ich sehe mit Verlangen Deinen nächsten Briefen entgegen, um zu erfahren, wie es Dir auf Deiner Commissionsreise7 gegangen, ob Ihr den Besuch in München ausgeführt, was Ihr für weitere Reisepläne habt, was Eure lieben Kinder machen, ob sie wieder ganz wohl und wo Ihr sie unterbringt? Ich hoffe, daß Du Dich entschließt, in die Alpen zu wandern; Ihr habt sie so nahe und könnt Euch jedes beliebige Plätzchen heraussuchen; nirgends wirst Du so viel Genuß und Erfrischung finden.

Grüße Deine liebe Susi und alle Kinder herzlich; auch von Friederike, welche in der Hitze fest vergeht, tausend Grüße.

Dein Immanuel

P. S. Es schwebt in der Verhandlung, Beseler aus Greifswald hierher zu berufen zur Professur von Lancizolle; noch muß erst dem letzteren sein Gehalt bei dem Staats-Archiv ausgeworfen werden und dagegen sträubt sich der Finanzminister. Ich gönne es Beseler sehr, fürchte aber, daß er hier wieder in die Politik hineingezogen, sich in den Landtag wählen lassen, und seinem wissenschaftlichen Beruf, in dem er gewiß mehr leistet, als in der Politik, verloren gehen möchte.