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Karl Hegel an Susanna Maria Hegel, geb. Tucher, Bern, 14. August 1865

Liebes Suschen, da bin ich nun glücklich in Bern, wo ich eben im Schweizerhof übernachtet habe. Leider ist heute morgen das Wetter ganz trübe und sieht nicht so aus, als ob es sich für diesen Tag wieder aufhellen wolle. Heute Nacht und gestern Nachmittag während der Fahrt hierher hat es tüchtig geregnet. Doch war ich im Übrigen durch das Wetter begünstigt genug. Und auch sonst! Ich brauche nicht mit Nürnberg anzufangen, da Du das schon erfahren hast, wie glücklich ich es angetroffen! Die Eltern kamen einen Moment nach mir auf dem Bahnhof an. Auf dem Glockenhof hatte sich die ganze Verwandtschaft eingefunden. Am folgenden Morgen1 fuhr ich ab nach Augsburg und Lindau. In Gunzenhausen, wo ich die Bratwürste nicht ungegessen vorbei lasse, fand ich eine ganze Anzahl Collegen beisammen, die schon von Erlangen aus mit einander gefahren: Ziemssen (allein), Makowiczka (ebenso), Zöller (mit seinen beiden Damen), Schelling (allein), Vogel (auch allein), Schmidtlein mit ganzer Familie. Schelling hatte nach seiner Weise ein Coupé 3. Klasse allein für sich und seine Freunde in Besitz genommen, Schmidtlein war in eben einem solchen. Der letztere ging aber schon in Gunzenhausen ab; ebenso Makowiczka und Vogel – nach verschiedenen Richtungen. Ich setzte mich dann in das Schelling’sche Coupé und fuhr mit seiner Gesellschaft nach Augsburg, wo wir zu Mittag aßen und uns trennten. Nur Ziemssen fuhr mit mir weiter. Von Augsburg aus mit Courierzug.

Das Wetter war schön, bei Kempten hatten wir den Blick ins Algäu und auf dem ganzen folgenden Wege den auf die grünen Matten und Wälder. Es wurde uns etwas heiß auf der Fahrt und wir hatten recht genug, als wir 6 ¼ Uhr in Lindau ankamen. Dort wartete schon das Dampfschiff nach Rorschach und Harnack nebst Familie als Zuschauer am Hafen. Wir wurden von diesen herzlich begrüßt und beim Ausfahren aus dem Hafen vom Leuchtthurm herab verabschiedet. Die Fahrt über den See war herrlich und die Beleuchtung des Wassers, Himmels und der Berge wundervoll, besonders als die Abendsonne hinter einer Wolkenschicht, die sie eine Zeitlang verborgen, hervortrat. Ich hatte eigentlich gleich nach Romanshorn gewollt, von wo die Eisenbahn am nächsten nach Zürich geht; ging aber zur Gesellschaft mit Ziemssen nach Rorschach, das ich gerne wiedersah.2 Wir stiegen im Hirsch3 ab und gingen noch ein wenig am See umher; wir theilten dasselbe Zimmer, hatten aber beide eine schlaflose Nacht, da wir von der langen Fahrt erregt waren. Gestern Morgen4 trennten wir uns in Rorschach, um später wieder zusammen zu kommen. Ich fuhr mit Dampfschiff nach Romanshorn; es war ein herrlicher Morgen und der Säntis lag ganz klar im Hintergrund über die ersten Berge hervorragend vor mir.

In Rorschach hatte ich das kleine Pech, daß ich mir ein großes Dreieck in meine Sommerhose vorn über dem Knie an einem Kofferende riß; die freundliche Wirthin eines reizend gelegenen Schweizerhäuschen am Hafen, wo ich zwei Stunden lang die Aussicht nebst Café genoß, hat das Loch einigermaßen zusammen genäht. Der Eisenbahnzug ging erst 10 Uhr 20 Min., und es geschah daher, daß ich mit Ziemssen, der den Weg über St. Gallen eingeschlagen – zu demselben Ziel, nämlich Zürich, – wieder in Winterthur zusammentraf, worauf wir uns nach einstündiger Fahrt erst wieder in Zürich trennten. Ich hatte dort nur einige Minuten Zeit, um eine Suppe zu verschlingen, als es schon wieder weiter ging, über Baden, Brugg, Arau; ein sehr interessanter Weg mit auch historisch bedeutenden Örtlichkeiten, denn er führte über die Reuß, dort wo König Albrecht 1308 von seinem Neffen Johann erschlagen wurde – was die Kinder merken sollen, denen Du die Kirche auf der Karte zeigen mußt: Königsfelden ist der Ort und das Kloster, welches für das Seelenheil des Königs von seiner Gemahlin gestiftet wurde. Baden, Arau liegen sehr schön von der Bergkette des Jura eingefaßt; man fährt unter Arau durch ein Tunnel, weiter über Olten, Aarburg, Herzogenbuchsee. Nach dem Regen, der mich hier zum Theil begleitete, klärte sich das Wetter wieder auf und beim Eintreffen in Bern sah ich die gewaltige Kette der Hochalpen hell glänzend im Schnee. Ich eilte, nach Ankunft um 6 ¼ Uhr, meine Sachen im Gasthof abzulegen, im Schweizerhof nahe bei der Eisenbahn, nur die Alpen noch in der Abendbeleuchtung zu sehen.

Im Bädecker war das Schänzli über der Aar als der schönste Aussichtspunkt bezeichnet. Dorthin ging ich über die Aar auf der Eisenbahnbrücke, und wie ich oben ankam, sah ich die ganze Stadt und den Fluß zu meinen Füßen und drüber hinaus die grünen Vorberge und dann die ganze imposante Reihe vom Wasserfall an, Schreckhorn, Jungfrau, Mönch, Eiger bis zur Blümlisalp und den Freiburger Bergen. Alles war schon im Abenddunkel, nur die gewaltigen Häupter noch im schönsten Rosenroth. Hättest Du das nur mit mir sehen können, liebes Suschen, es hätte mich viel mehr gefreut. So saß ich allein unter den vielen fremden Menschen und eine theatralisch in weiß und blau costumirte Musikbande (mit weißen Bunthosen, hellblauen Stiefeln und silbernen Helmen von Pappe) spielte dazu. Als die Nacht die Sonne in ihr Grau eingehutet hatte, stieg ich wieder hinunter und trieb mich in den belebten Straßen umher, las noch einige Zeitungen im Gasthof und legte mich zur Ruh. Die Nacht war viel besser als die erste. – Nun seid zum Schluß noch alle herzlichst gegrüßt und Du liebes Suschen gieb mir Nachricht nach Genf. Heute Morgen werde ich mich noch hier umsehen und einige Besuche machen. Nachmittags fahre ich über Freiburg nach Lausanne. Lebe wohl und habe mich lieb. Wenn ein Brief von Manuel kommt oder eine Einladung von München, so lege sie bei. Mache nur alle Briefe an mich auf, damit Du selbst siehst, was zu schicken sich verlohnt. Lebe wohl geliebtes Weib!5