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Karl Hegel an Susanna Maria Hegel, geb. Tucher, Latour bei Vevey, 18. August 1865

Liebstes Suschen! Das Datum oben zeigt, in welcher schönen Stadt unserer kleinen Welt ich mich befinde und Deiner wie überall gedenke. Ich schreibe am offenen Fenster, welches den blauen See vor mir und die steilen Berge Savoyens gegenüber einrahmt bei rauschenden aber doch sanften Wellen, die an das Ufer zu meinen Füßen anschlagen; eben fährt rasch ein Dampfschiff vorüber, welches von Villeneuve herkommt und nach Lausanne weiter gehen wird. Der Himmel ist bedeckt und die Berge fangen an Wolken anzuziehen; heute morgen, das heißt vor zwei Stunden um 6 Uhr, war er fast rein und zum ersten Mal sah ich das hohe schneebedeckte Haupt von Dent du Midi im Süden klar vor mir liegen. Aus dem anderen Fenster meines Eckzimmers übersehe ich die Weinberge des Flecken Latour und einen Teil von Vevey mit dem Seeufer bis nach Lausanne hin. Gewiß, man kann nicht schöner wohnen und es fehlt mir jetzt nichts, als daß Du alle diese Herrlichkeiten mit mir theilen könntest.

Auf Deinen schon in Genf erwarteten Brief kann ich leider noch nicht antworten, da ich ihn bisher nicht erhalten habe; doch hoffe ich ihn sicher heute noch zu erhalten und werde deßhalb mit Absendung des meinigen bis heute Nachmittag warten. Meinen ersten aus Bern, den 14. August1, hast Du gewiß bekommen. Ich schrieb Dir am Morgen nach meiner Ankunft in Bern. Es war trüb und bald begann es stark zu regnen. Herr Prof. Studer, den ich aufsuchte, war verreist. Ich besah den prächtigen Bundespalast und dachte mir die schöne Aussicht, die man von der Terrasse auf das Gebirge haben soll; doch war auch die Nähe mit dem Blick über die Aar sehr schön. In demselben Gebäude ist die öffentliche Gemäldesammlung mit manchen schönen Landschaften der Schweiz und eine Sammlung von Gypsabgüssen nach Antiken. Auch das Münster ist ein sehr schöner Bau mit einer prächtigen Terrasse, unter deren großen Linden ich lieber Schatten gegen die Sonne als Schutz vor dem Regen gesucht hätte. Dann sah ich die Bären und den Kindlifresserbrunnen, wovon ich den Kindern mehr erzählen will. Ich war sehr zufrieden, daß ich wenigstens den schönen Abend am Tage vorher genossen hatte, um zu wissen, wie sich Bern bei schöner Beleuchtung ausnimmt und fuhr Nachmittags weiter, um in Freiburg zu bleiben, wenn das Wetter nicht besser würde. Doch es wurde unterwegs besser und so beschloß ich meine Reise bis an den See nahe Lausanne fortzusetzen, wo ich bei guter Zeit ankam und im Hôtel du Grand Pont abstieg. Schon ehe man nach Lausanne kommt, öffnet sich beim Ausfahren aus einem Tunnel eine herrliche Aussicht auf den See, die ich hernach auf der Promenade bei Lausanne noch mehr genoß. Ich ging dann noch bei Dunkelheit durch die schön beleuchteten Straßen und besuchte am anderen Morgen die Höhe des Signal, wo man eine weite Übersicht über die Stadt und den See gewinnt. Das Wetter war wieder schön und der Weg sehr lohnend, wenn auch die ferneren Berge etwas verschleiert blieben. Oben traf ich einen Einwohner von Lausanne, der mich bis zum Landhause des Ms.2 le pasteur Bridel führte. Ich konnte nur Mad.3 Bridell sprechen, der ich Grüße von Freund Heyder brachte; ihr Mann war leider unwohl. Ich erkundigte mich nach Gaudins und le petit chateau, und erfuhr, daß das letztere ganz in der Nähe sei.4 Dort traf ich Mds.5 Gaudin, die jetzt allein mit ihrem brustkranken Bruder in dem netten Häuschen mit der reizenden Aussicht lebt. Sie empfing mich sehr freundlich und zeigte mir Georgs Zimmer mit der Namensschrift, die er in die Fensterbank am Stein eingezeichnet hat. Ich sah hinauf nach oben nach dem Dom und die Stadt und bestieg am Nachmittag das Dampfschiff nach Genf. Das Wetter war prächtig, der See erschien in herrlicher Bläue: es ging an Morges, Rolle, Nyon, wo in der Höhe das Landgut des Prinzen Napoleon liegt, dann weiter an Coppet, den Landsitz des Ministers Necker und der Frau von Stael vorüber, bis endlich der prachtvolle Quai von Genf und die Landhäuser an beiden Ufern erschienen.

Abends. Liebes Suschen, Du hast mich wohl ganz vergessen? Ich habe zwei Posten von Genf abgewartet und noch immer ist kein Brief da. Oder ist er in Genf liegen geblieben? ich will nun nicht länger warten und diesen Brief morgen früh6 abgehen lassen, damit ich noch hier eine Antwort darauf erhalte, denn ich denke 5 bis 6 Tage hier zu bleiben und von hier aus einige Touren in der Nähe zu machen. Heute Vormittag habe ich mich in der nächsten Umgebung umgesehen, die überall zauberhaft schön ist; vor dem Essen nahm ich ein Bad im See vor meinem Hause; Nachmittags ging ich mit Gottlieb nach Clarens, an welchem die poetischen Erinnerungen Rousseau’s haften7; es ist nur eine Stunde weit weg von hier und unterwegs sahen wir oberhalb Clarens das sogenannte bosquet de Julie, ein Wäldchen, neben welchem jetzt ein prachtvoller Palast erbaut ist, Clarens selbst ist vollgestopft von Pensionshäusern, eines schöner als das andere, ebenso wie Vevey und weiterhin Montreux. Doch ich muß noch auf Genf zurück kommen.

Ich stieg in Genf in dem berühmten Hotel des Bergues ab, welches ich trotz seiner hohen Preise gern kennen lernen wollte; es ist übrigens jetzt nicht mehr das größte und prächtigste in Genf, da es in beiden Beziehungen noch von dem Hotel de la Métropole übertroffen wird. Die Lage ist sehr schön, jenseits der Brücke in dem neuen Genf gegenüber dem alten; aus meinem Fenster sah ich auf die belebte Brücke und das Wasser und die Quais. Es wurde bald Nacht und die reichen glänzenden Läden in der Hauptstraße waren tageshell erleuchtet; welche Pracht von Uhren und Goldschmuck wird an den großen Schaufenstern ausgebreitet! dann in anderen Läden wieder welche Eleganz der Damenanzüge! Scharenweise hintereinander gruppiert, wie Reihen von Damen, nur ohne Köpfe, anzusehen! und dise vielen Café’s. Ich trank irgendwo in einem von diesen mein Glas Bier, nachdem ich genug umher gelaufen, und begab mich in mein elegantes Zimmer zurück, in welchem ich auch ganz gut schlief. Am andern Morgen war das Wetter wieder so schlecht wie in Bern, und ich ging beim Regen nach den Sehenswürdigkeiten, die sich auch bei solchem abmachen lassen – die Kathedrale, Museum, Bibliothek; nur leider waren auch diese zum Theil versperrt! die Bibliothek hermetisch für Jedermann, wegen der Ferien, geschlossen; das Museum ebenso; blieb noch der botanische Garten – denn in dem conservatoire de musique wurde wegen der Ferien auch keine Musik gemacht, nicht einmal von Schülern – von dem botanischen Garten hatte ich nicht viel Verständniß und schien er mir außer den schönen großen Brunnen auch nichts Besonderes zu enthalten, was wir nicht besser in Erlangen hätten. Dort aber führte mir das Schicksal freundlicher Weise einen Rostocker Bekannten zu, den ich nicht gekannt, wenn er mich nicht zuerst gegrüßt und angesprochen hätte, da ich ihn in Rostock auch nur wenig gesehen – es war der Lehrer Raddatz! nunmehriger College von Brandis und Brummerstädt.

Wir fanden uns gleich recht gut zusammen und brachten den ganzen Tag mit einander zu – fast immer im Regen. Nachmittags schlug ich vor den Weg nach Ferney, dem einstigen Wohnsitz Voltaire’s, zu gehen und der Regen hörte eine Zeit lang auf, nachdem wir eine Stunde gegangen, trafen wir den omnibus, der uns vollends hinbrachte. Es war mir interessant, das Schloß wenn auch nur von außen zu sehen und seine Lage kennen zu lernen. Es ist bescheiden genug im Vergleich mit den vielen anderen Palästen und Gutshöfen rings um den See und hat auch keinen hervorragenden Aussichtspunkt. Neben dem Eingang befindet sich ein sehr unscheinbares Kirchlein mit der anspruchsvollen Inschrift: Deo erexit Voltaire 1761 – Für Gott errichtet von Voltaire.

Am folgenden Morgen war der Himmel wieder heiter. Ich ging noch auf die Post, um nach einem Brief von meinem Suschen zu fragen; aber Suschen nimmt sich Zeit; er war noch nicht da – Donnerstag8 Morgens 9 Uhr! und er ist noch nicht da Freitag Abends 9 Uhr in Vevey! Geduld, mein Herz! Um 10 Uhr gestern früh ging ich direct mit der Eisenbahn längs dem See auf der Nordseite durch Lausanne bis Vevey, wo ich im 1 Uhr ankam. Von Friedrich Grundherr hatte ich die Adresse der Pension, in der sich sein Schwager Gottlieb befindet – in La Tour bei Ms. Combe. Ich dachte, daß es am zweckmäßigsten sei ihn sogleich aufzusuchen um mich nach einer Privatwohnung zu erkundigen. Und das war gut gethan! Ich fand den guten Jungen bei seinem alten Herrn Combe, der ein kostbares Original und Schwiegervater von Kaufmann Knopf in Nürnberg ist: es sind 6 junge Leute bei ihm, die alle französisch bei ihm lernen sollen und in der That schwatzt Herr Combe genug für 20. Mir war er sofort für meinen Zweck behülflich und brachte mich ohne seine Pantoffeln auszuziehen in ein benachbartes großartiges Pensionshaus: Pension du Rivage, das mitten im Garten gelegen auf der einen Seite auf die Berge, auf der andern auf den See hinaus sieht, wo ich mir das oben beschriebene Eßzimmer zwei Treppen hoch aussuchte, denn es waren zur Zeit nur zwei russische Familien im Haus, wurde aber noch heute eine griechische mit 17 Köpfen erwartet und statt dieser sind heute Abend Franzosen Mann, Frauen und Kinder eingerückt. Mein Zimmer ist elegant meublirt9, die Einrichtung noch ganz neu; ich bekomme richtiges Frühstück nach Schweizer Art mit Butter und Honig, wofür man in den Wirthshäusern 1 ½ fr.10 zahlt, ein gutes diner11 um 2 Uhr und ein sogenanntes gouter12 Abends Fleisch, Spanischen Honig, Butter und Früchte und zahle für dieses und die Wohnung täglich nur 5 francs, was nach den Gasthofspreisen, die ich bisher genossen, eine wahre Erholung ist. Auch sonst denke ich mich erst hier etwas auszuruhen und zu erholen und will deshalb die übrige Zeit hier zubringen und nur von hier aus Ausflüge machen. Der gute Gottlieb ist Nachmittags mein Begleiter. Von Ms. Combe erfahre ich was ich wissen will und noch viel mehr als das. Mit dem einen von den Russen bin ich schon recht gut bekannt geworden und es hat sich gefunden, daß wir Universitätscollegen sind: er ist nämlich der Ziemssen von Moskau, also Professor der Klinik daselbst und war Deputirter in Wien, bei dem jämmerlichen Universitäts-Jubiläum.13 Er ist mit zwei Töchterleins hier, in dem Alter von Annchen und Luischen, und erwartet seine Frau, der Glückliche! –

Nun habe ich Dir für dismal genug geschrieben – zwei Briefe ehe ich einen habe! Wenn ich nur wüßte, wie es Euch geht! Was macht Annchen’s abgestutzte Mandel? was ihre Stimme und ihr Gehör? Wie geht es unserem guten Gustelchen? Ziemssen meinte, es würde vergeblich sein, es wieder mit der Milch zu versuchen; man müßte anfangen ihm zu essen zu geben, dicke Suppe dergleichen. Was machen Luischen, Marie, Georg – ist er fleißig, brav und folgsam? und Mundel, das Capitalkerlchen – ist er munter? – Es ist Zeit zu Bette zu gehen; unter mir rauscht der See; der Himmel ist schwarz, ich sehe die Lichter von Vevey, aber keinen Sturm. Heute morgen wurde das Wetter sehr schön und blieb so über Mittag bis gegen Abend, wo es zu tröpfeln anfing. Gute Nacht, geliebtes Frauchen!

Dein Mann.

Antworte mir doch gleich, damit ich Deinen Brief noch hier bekomme. Meine Adresse ist: in La Tour, pension du Rivage bei Vevey (Schweiz) (Suisse)