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Karl Hegel an Susanna Maria Hegel, geb. Tucher, Latour bei Vevey, 24. August 1865

Liebes Suschen! Deinen ersten Brief habe ich über Genf erhalten.1 Du hast ihn zwei Tage später abgeschickt, als die Abrede war, Du böse Frau! Doch ich weiß, was Du zu Deiner Entschuldigung sagen kannst und ich will nicht böse sein. Du hast die Freude gehabt die Eltern wiederzusehen. Was Du über Gustelchen schreibst lautet nicht besonders befriedigend, doch tröste ich mich mit Dir in der Hoffnung, daß das Kind bald wieder in einen besseren Weg kommen werde. Ich warte immer noch auf Deine Antwort auf meinen Brief von hier2; wenn sie heute und morgen nicht ankommt, werde ich sie nicht mehr empfangen. Ich habe keine längere Ruhe hier, so schön es ist. Hätte mich das schlechte Wetter nicht festgehalten, ich wäre schon vor einigen Tagen fort. Wir haben fast täglich Regengüsse; gestern und vorgestern waren sie besonders stark und anhaltend, dann folgten wieder wunderschöne Momente, so gestern Abend bei Sonnenuntergang, und heute morgen. Während ich Dir schreibe, sehe ich vor mir den blauen Wasserspiegel mit den Bildern der Wolken und der von ihnen bedeckten Berge; nur heute früh zeigten sich die letzteren in reiner Klarheit. Gern möchte ich noch, ehe ich diese Gegenden verlasse den Montblanc sehen; ich sah ihn nicht von Genf aus; in dem Winkel des Sees, wo ich jetzt bin, au fond du lac3, kann man ihn überhaupt nicht sehen. Ich will aber heute Nachmittag noch einen Ausflug nach Martigny ins Wallis unternehmen und hoffe dort in der Nähe, vielleicht vom Col de Balme, wenn das Wetter günstig ist, den Blick zu gewinnen. Morgen Abend denke ich wieder hier zu sein und übermorgen will ich dann die Rückreise über Neuschatel, Biel, Schaffhausen einschlagen, so daß ich bis Montag Abend oder wenn dies nicht möglich ist – um mich nicht zu sehr abzuhetzen – bis Dienstag4 bei Euch einzutreffen hoffe.

Ich habe in den ersten Tagen meines hiesigen Aufenthalts einige schöne Ausflüge in die Umgebung ausgeführt – nach Montreux und Umgebung, nach Schloß Chillon, welches auf einem Felsen im See sehr romantisch liegt und von Lord Byron besungen worden ist5. Auf meinen Spaziergängen hat mich meist der gute Gottlieb begleitet. Er ist ein guter, gewissenhafter Junge, der sich alle Mühe gibt französisch zu lernen, aber noch nicht weit damit gekommen zu sein scheint; eine besondere Schwierigkeit bereitet die schlechte fränkische Aussprache. Sein Lehrer, bei dem er mit 4 oder 5 anderen Pensionären im Hause wohnt, Ms. Combe ist ein alter Schwätzer; dafür ist die verheiratete Tochter, Mad. Neßler, die sich auch viel Mühe mit Gottlieb giebt, um so liebenswürdiger; ihr Mann, ein Pfälzer, ist ebenfalls unterrichtet und angenehm. Ich war einige Mal Abends dort und es wurde von den beiden Töchtern Musik gemacht. Ich selbst habe mir aus einer buchbibliothek meinen Bach verschafft und spiele täglich mit dem recht guten Pariser Instrument unserer Pension. Auch mit der Gesellschaft von russischen und griechischen Familien, die sich in dieser zusammengefunden unterhalte ich mich ganz gut.

Gestern war ich sehr erfreut Häusser zu begegnen, der seiner Gesundheit wegen einige Wochen am Lago maggiore verweilen will und auf der Durchreise sich hier aufhielt. Er hat schon seit einem Jahr ein beschwerliches Herzleiden. Von ihm erfuhr ich, daß die Augsburger Allgemeine Zeitung vor einigen Tagen einen halboffiziellen Artikel gebracht hat, worin enthalten, daß der König die Fortdauer der Historischen Commission auf 15 Jahre gesichert habe; es wird also wohl indeß schon die Einladung zur Sitzung nach München6 erfolgt sein.

Mittags. Eben habe ich Deinen lieben Brief vom 21.7 erhalten und mit großer Freude gelesen. Es ist so vieles darin, was mich herzlich berührt hat, daß ich noch eine lange Antwort darauf schreiben müßte. Dazu habe ich aber jetzt keine Zeit, da ich noch vor dem Essen meine Sachen zusammenpacken will, um heute Nachmittag nach Martigny abzureisen. Der Tag ist sehr schön geworden und ich hoffe, daß das Wetter morgen gut bleiben wird. So schlecht wie Ziemssen habe ich es doch nicht getroffen und es würde mich reuen, so bald umgekehrt zu sein. Der Moskauer Professor ist nur der dortige Ziemssen von mir genannt worden, weil er dasselbe Fach der Medizin vertritt8; übrigens heißt er Warwinsky. Herrn Favran, Partner in Lausanne, habe ich dort besuchen wollen, aber er war nicht anwesend. So ist es mir auch mit den Adressen von Herzog gegangen, so weit ich von ihnen Gebrauch machen wollte. Ich freue mich von Herzen, daß es den Kindern gut geht und besonders daß sich Gustelchens Befinden bessert. Ich bedaure Annchen wegen der unangenehmen Folgen ihrer Operation möchten die späteren Folgen um so erwünschter sein! Endlich wissen wir nun das bestimmte über Manuels Hochzeit. Nach Lautensee denke ich nun aber doch nicht zu gehen; vielleicht und eher nach Dresden.

Auf der schönen Terrasse bei der Kirche St. Martin, von der Du schreibst9, war ich öfter. Friedrich hätte ich gern mitgenommen: doch finde ich es auch besser, daß er zuerst den Rhein sieht.

Tausend  Grüße und ebenso viel Küsse für Dich und die Kinder! Auf frohes Wiedersehen in Erlangen

von ganzem Herzen
Dein Dich liebender Mann.