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Karl Hegel an Susanna Maria Hegel, geb. Tucher, Paris, 5./6./8. September 1867

Liebstes Suschen! Deinen lieben Brief1 aus Simmelsdorf habe ich richtig am Montag2 auf der Post erhalten; er hat mir große Freude gemacht; ich kann mir denken, daß es Dir und den Kindern in dem schönen stillen Simmelsdorf bei den lieben Eltern und Verwandten aufs Beste gefällt; jeder findet dort was ihn unterhält, erheitert und erfrischt. Möge es Euch Allen wohl gehen! Auch mir geht es fortwährend gut, obwohl ich den ganzen Tag über bis Mitternacht, mit Ausnahme der 4 Stunden auf der Bibliothek, in der Unruhe zubringe, durch Fahren, Sehen, Laufen beschäftigt bin. Meine Tagesordnung hat sich nun ziemlich regelmäßig festgestellt. Ich stehe zwischen 7 und 8 Uhr auf, trinke Caffe und lese die Zeitung in einem Caffe des Odeonplatzes in meiner Nähe, fahre per Omnibus (wenn es nicht regnet, sitze ich oben auf der Imperiale) nach der Bibliothek, die wie alle Museen erst um 10 Uhr geöffnet wird, arbeite dort bis 2 Uhr, besuche dann eines der Museen – am häufigsten werde ich die des Louvre sehen – welche um 4 Uhr geschlossen werden, unternehme dann irgend eine andere Ausfahrt und esse nachher um 7 Uhr, oder umgekehrt; um 8 Uhr gehe ich in ein Theater oder in ein Lesecabinet; das Theater dauert bis gegen Mitternacht.

Die Nürnberger Gesellschaft, mit der ich mich immer wieder begegnete, scheint nun fort zu sein; auch Gerlach und Frau sind wohl abgereist. Da ich nicht mehr in die Ausstellung komme, treffe ich die Freunde nicht leicht. Sehr freuen würde es mich, mit den lieben Vettern Theodor und August zusammen zu kommen; wenn sie mich nur zu finden wissen! Haben sie meine Adresse noch erhalten vor ihrer Abreise? am sichersten finden sie mich in der kaiserlichen Bibliothek, Abtheilung der Manuscripte im Arbeitszimmer zwischen 10 – 2 Uhr.

Seit zwei Tagen habe ich keinen Bekannten mehr gesehen: es ist seltsam in einer solchen unermeßlichen Menschenmenge sich allein umherzutreiben! Meine Unterhaltung beschränkte sich auf die wenigen Worte, die ich mit den Garcons, den Omnibusführern oder mit einem Nachbarn im Theater wechselte. Dr. Reuß aus Straßburg, auf den ich sehr gerechnet habe, war leider schon abgereist, als ich ankam. Mit Herrn Schmidt aus Nürnberg besuchte ich am Montag Abend die neue Parkanlage von Buttes Chaumont, wo Hügel, Seen, Wasserfälle, Felsgruppen künstlich geschaffen der Fabrikbevölkerung im Nordosten der Stadt reizende Spaziergänge und einen weiten Überblick auf dieser Seite selbst bis auf die Felder hinaus gewähren. Auf dem Rückweg begegnete uns 3 Wiß mit dem Schwager seines Bruders. Dann gingen wir in ein Volkstheater (des menus plaisirs) wo ein dummes Stück recht lustig gespielt wurde. Am folgenden (Dinstag4) Abend war ich in dem berühmten théatre Français: das Haus ist nur klein, aber man sieht dort das klassische Schauspiel von den besten Künstlern ausgeführt. Das Stück, das ich sah, war Hernani von Victor Hugo, romantisch, phrasenreich, absurd in Handlung und Entwicklung, aber doch spannend und interessant; und vor allem, es wurde mit seltener Meisterschaft, mit echter Leidenschaft, französisch zwar aber ohne Übertreibung der Natur gespielt.

Am folgenden Nachmittag (Mittwoch5) ging ich von der Bibliothek aus zum ersten Mal in das Louvre und sah dort die Meisterwerke der alten Kunst, neben denen Alles, was die gegenwärtige Exposition Universelle in dieser Art darbietet, verschwindet. Die Perlen der Gemäldesammlung sind in einem einzigen Saal vereinigt, und unter diesen strahlt als die schönste vor allen andern die Madonna von Murillo hervor: sie steht in den Wolken, die Mondsichel zu ihren Füßen, von Engelkindern umgeben, den Blick nach oben gerichtet, ganz durchleuchtet von der göttlichen Offenbarung, die sie empfängt. Die heiligen Familien von Rafael, eine von Lionardo da Vinci, das Porträt der Mona Lisa von demselben, die Grablegung von Tizian, Vergine Caravaggio’s, die große Hochzeit zu Canaan von Tintoretto befinden sich in demselben Saal. Nach 4 Uhr fuhr ich durch die Champs Élisées nach dem berühmten Bois de Boulogne, ein Parc wie der Berliner Thiergarten mit breiten Wegen, und Abends bis gegen 12 Uhr sah ich im Vaudeville Theater die Famille Bénoiton, ein Stück aus dem Pariser Leben, welches vortrefflich gespielt wurde. Gestern Nachmittag hätte ich unsere Kinder zu mir gewünscht, um im jardin des plantes, welcher den zoologischen mit dem botanischen Garten vereinigt, die prächtigen und merkwürdigen Thiere zu sehen, die indischen Elephanten, Geschenk der Beherrscher von Siam6, die zwei großen Nilpferde, Geschenke des Vicekönigs von Ägypten7, das Rhinocoros, ein höchst ungeschlachtes, schmutziges Thier, die Auerochsen mit ihren ungeheuren Köpfen, die Löwen, Tiger, Affen, Krokodile, Vögel aller Art!

Deinen lieben Brief vom 5. September8 habe ich schon gestern Abend beim Nachhausekommen vorgefunden. Du kannst Dir denken, daß er mir große Freude gemacht hat! Die einfachen ländlichen und Familienbilder, die Du mir schilderst, stechen sehr ab gegen das Treiben, den Lärm, die Pracht, den Luxus und das Gedränge dieser Stadt. Die lieben Vettern wünsche ich sehr zu treffen; ich schreibe deßhalb sogleich an sie (ihr Hotel ist eine Stunde weit von dem meinigen) um die Zusammenkunft herbeizuführen: sie werden wohl meist in der Ausstellung sein, wo ich heute auch noch einmal hingehen will. Gestern und vorgestern besuchte ich von der Bibliothek aus die Sammlungen des Louvre und durchwanderte die assyrischen, ägyptischen und zuletzt die griechischen Säle: in den letzteren ragen hervor der borghesische Fechter, die Minerva von Velletri, eine colossale Melpomene und vor allem die unvergleichliche Venus von Milo (Melos). Abends war ich vorgestern im Théatre des variétés, wo die komische Oper Grande Duchesse de Geroldstein sehr gut gegeben wurde, welche im nächsten Winter vermuthlich auch auf dem Nürnberger Theater erscheinen wird; gestern Nachmittag besuchte ich noch den berühmten Kirchhof Père la Chaise, eine doppelte Reihe von Cypressen führt die Höhe hinauf, wo eine Kapelle steht, dunkle Kastanienalleen folgen weiter, dazwischen unzählige Denkmäler, dicht aneinander gereiht, viele kleine Häuschen von Stein mit schmaler Eingangsthür; das Standbild von Casimir Perier hat einen einsamen Ehrenplatz; mich rührte am meisten das Denkmal von Abälard und Heloise in gothisch verzierter Kapelle. – Ich denke meinen hiesigen Aufenthalt nicht bis über die heute beginnende Woche hinauszudehnen, da ich meine Arbeit in der Bibliothek bis dahin zu vollenden hoffe. Schreibe mir daher nicht mehr hierher, sondern gieb mir bis Sonntag9 (oder Sonnabend10) Nachricht poste restante11 nach Heidelberg. Bleibst Du noch die folgende Woche in Simmelsdorf, so komme ich von Erlangen aus auf zwei Tage dorthin, im andern Fall finde ich Euch zu Haus. Wie freue ich mich darauf Euch, Ihr Lieben, Dich, liebes Suschen wieder zu sehen! Es dünkt mich eine Ewigkeit, daß ich fort bin. Tausend Grüße an Alle Lieben in Simmelsdorf. Lebe wohl, liebstes Weib!

Dein Getreuer.