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Karl Hegel an Susanna Maria Hegel, geb. Tucher, Paris, 9. – 12. September 1867

Liebes Suschen! Ich fahre in meinen Tagesberichten fort. Meinen Brief1 an Dich gab ich gestern zuerst auf die Post, machte dann einen weiten vergeblichen Weg, um Herrn de Rozière, inspecteur géneral des archives zu besuchen, der mich in Straßburg hatte begrüßen lassen – denn er war auf dem Lande, und ging darauf in das palais de Luxembourg, welches gegenwärtig dem Senat zugewiesen ist und eine werthvolle Sammlung von neueren französischen Gemälden, von Horace Vernet, P. de la Roche, Ingres und Anderen enthält; der prächtige Thronsaal, worin der Thron Napoleon’s I., dann der Sitzungssaal des Senats sind gleichfalls sehenswerth. Ein Omnibus brachte mich nach der großen Ausstellung, die mich in 5 Stunden Umhergehens und Sehens abermals aufs Äußerste ermüdet hat. Man sieht die Tausende von Dingen, die einen wenig interessieren, wenn man nicht Techniker in einem besonderen Fach ist. Doch fand ich auch ein solches Fach für mich, nämlich in der Abtheilung, welche betitelt ist: Geschichte der Arbeit und eine antiquarische Sammlung aus früheren Jahrhunderten enthält, freilich nur Proben und weniger bedeutende als man in den hiesigen Sammlungen sonst sehen kann. Frankreich hat für sich allein die ganze Hälfte der Ausstellung angefüllt. Es war mir am meisten anziehend die Industrie der verschiedenen Länder Europas insbesondere Deutschlands mit einander zu vergleichen, dann die Erzeugnisse, Rohprodukte und Fabricate der außereuropäischen Länder zu betrachten. Es ist ein großes Verdienst der Anordnung und Aufstellung, daß man jene Vergleichung mit Wichtigkeit anstellen kann, indem die verschiedenen Länder im Umkreis radienweise nebeneinander stehen und wiederum die einzelnen Zweige der Kunst und Industrie vom Centrum, dem offenen Blumengarten, ausgehend in der Peripherie aufeinander folgen, zuerst die Geschichte der Arbeit oder Culturgeschichte, dann Gegenstände der Kunst, Sculptur und Malerei, dann Fabricate für Kleidung, Wohnung, Luxus usf., dann Rohproducte, endlich im weitesten Umkreis die beständig arbeitenden Maschinen, unter welchen auch mehrere Orgeln, gewaltige Glocken, ein furchtbares Getöse durch einander!

Ich verließ die Ausstellung nach 6 Uhr und begab mich zu Fuß über die nahe Jenabrücke (es ist mit diesen Namen so wie auch sonst eine französische Prahlerei ohne Ende) nach der neuen großartigen Anlage des Trocadero, eine große Terrasse mit Park, von wo aus man die Seine unter sich und einem Theil von Paris vor sich sieht; es war ein weiter Weg von dort zu den Champs Elisées, wo ich mich bei einem Abendconcert im Freien niederließ und, so mild ist hier die Luft obwohl es gestern  nicht besonders warm war, bis gegen 10 ½ Uhr in der leichtesten Kleidung mit dem übrigen Publicum sitzen blieb, dann noch das Feuerwerk ansah, welches den Zwischenact ausführte und vor Anfang des 2. Theils des concerts wegging zu Fuß bis nach Haus wohl eine Stunde, denn ich fand nicht die mir passende Omnibuslinie.

10. Sept. Vergebens habe ich mich vorgestern auf der Ausstellung nach den Vettern umgesehen, vergebens sie gestern an den verschiedenen Orten, die ich ihnen in meinem Brief bezeichnet, erwartet: Vielleicht sind sie noch nicht in Paris, vielleicht nicht in dem von Dir genannten Gasthof abgestiegen; so kann ich nur auf einen günstigen Zufall des Zusammentreffens hoffen. Von der Bibliothek aus begab ich mich gestern Nachmittag nach dem Haus der Invaliden (hôtel des Invalides) und dem Dom daselbst, unter dessen Kuppel Napoleons Grabstätte und Denkmal sich befindet. Das letztere ist ein schön geschliffener colossaler Sarkophag von rothem Porphyr, der in einer weiten und runden Vertiefung, ähnlich einem großen Bärenzwinger, mitten in der Kirche steht. Dieser Zwinger des todten Bären, an dessen blutiger Glorie die Franzosen mit Wollust zehren, ist mit Marmor bekleidet und von Todesengeln umgeben; die verblasten Fahnen bündelweis zwischen diesen, auf dem Boden die Namen der Siege, von einem Lorbeerkranz eingefaßt. Eine erstaunliche Menge von Menschen drängte sich vor dem Rund des Zwingers umher, um das Ruhmesdenkmal zu sehen. Das Invalidenhotel ist ein sehr ausgedehntes Gebäude mit großen Höfen; vor dem Eingang liegen die Kanonen, erbeutete natürlich, welche der Stadt Paris Nachricht von wichtigen Ereignissen gaben. Auf dem weiten Wege von dort, den ich zu Fuß zurücklegte, um einige Gebäude an der Seine besser in der Nähe zu sehen, kam ich auch in das frühere Palais Bourbon, dem großen Platz de la Concorde gegenüber, welches nun dem Corps législatif gehört, wie vorher der Deputirten Kammer. Es war mir von Interesse die geschichtlich gewordenen Räume, besonders den schönen von Marmorsäulen umgebenen Sitzungssaal, eine große Rotunde, zu sehen, wo im Februar 1848 die Herzogin von Orléans die Rechte ihres Sohnes so heldenmüthig vertrat.2 Abends trieb ich nur auf den Boulevards umher und las Zeitungen; die Menschenmenge ist dort so groß, als ob es immer ein großes Volksfest gäbe; drei Reihen von Wagen fahren nicht selten nebeneinander, so daß man nicht ohne Gefahr und Schwierigkeit die Straße passirt, die Läden strahlen im schönsten Lichterglanz, wie die Straßen selbst, und legen ihr Gold und Silber, ihre Prachtgewänder und allen erdenklichen Luxus zur Schau; es ist ein erstaunlicher Lärm, aber nirgends eine Rohheit, nirgends eine Unordnung oder Unanständigkeit.

Gestern Morgen erhielt ich noch Deine Zeilen vom 7. September3 mit dem Brief von Kern, mit dem es jedoch keine solche Eile hatte, da ich seinen Wunsch doch erst in Erlangen erfüllen kann; aber ich danke es ihm doch, daß er mir die neuesten Nachrichten von Dir aus Simmelsdorf verschafft hat. Ich werde also die Freude haben, Euch schon in Erlangen wiederzusehen, wenn Du Deinen Plan ausführst Ende dieser oder Anfang der nächsten Woche zurückzukommen. Die Vettern habe ich auch gestern nicht getroffen. Dagegen hatte ich beim Eintritt in die Bibliothek die angenehme überraschende Begegnung mit Waitz, der erst zwei Tage vorher in Paris angekommen war.

Auch er ist allein hier und freute sich nicht wenig mich zu treffen. Wir arbeiteten nebeneinander bis 3 Uhr, gingen dann ins Louvre, fuhren nach dem Montmartre, aßen bei Véfour, dem ersten Restaurant im Palais royale und besuchten die italienische Oper, wo die Patti im Barbier von Sevilla die Rosina sang. Das war hoch und vornehm gelebt! freilich auch theuer nach Verhältniß; der Platz hoch oben in der 3. Gallerie kostete 7 Francs. Die Patti sang wie eine Nachtigall, der Figaro und die Anderen waren nicht so bedeutend.

Ich war gestern wieder den ganzen Tag allein, da Waitz die Ausstellung besuchte; gegen Abend ging ich von den Boulevards aus nach der rue de l’Échiquier um im Grand Pavillon selbst nach den Vettern zu fragen, und erhielt die Bestätigung, daß sie dort nicht angekommen sind. Die Sammlungen des Louvre sind so groß, die Säle und Corridors, in denen sie aufgestellt sind, so weitläufig, daß ich noch nicht überall hingekommen bin. Ich war gestern in einem anderen Saal der italienischen Bilder und wurde wieder überrascht durch einige bekannte Meisterstücke von Rafael, die ich hier fand, das jugendliche schöne Porträt, welches wir im Kupferstich in der Gartenstube haben, die heilige Margarethe4, das Porträt des Grafen Castiglione; durch mehrere Lionardo da Vinci, Tizian, Palma vecchio und andre Größen dieser Art. Die Geburt des Christuskinds von Murillo ist ein Bild von unendlichem Reichtum und unsagbarer Schönheit: dies herrliche Bild hatte ich bisher noch in gar keiner Nachbildung gesehen; es würde auch in solcher gewiß viel mehr verlieren, als selbst die Rafaels, welche weit weniger Zauber im Colorit besitzen.

Ich besuchte nachher noch das weitläufige Palais de Justice auf der Seine Insel oder Cité, wo auch die Kirche Notre Dame steht und bestieg den Thurm St. Jacques, der sich gerade mitten in der Stadt unweit vom Hotel de Ville und dem Boulevard Sevastopol befindet. Man überblickt von dort besser als sonstwo, die ungeheure Häusermasse dieser Stadt, die Länge ihrer neuen mitten durchgebrochenen Straßen, den Lauf der Seine mit den vielen Brücken, die in der Mehrzahl prahlerische Siegesnamen führen, den großen Umkreis der äußeren Umwallung und Befestigung.

In’s Theater ging ich nicht, um mich vom Abend vorher zu erholen, denn die Hitze, die Anstrengung des Sehens und die späte Dauer hatten mich sehr ermüdet; indessen kam ich von den Boulevards und dem Lesezimmer doch erst um ½ 12 Uhr nach Hause. Für heute habe ich mich mit Waitz verabredet uns in der Bibliothek zu treffen.

Ich schicke diesen Brief heute morgen ab und adressire ihn nach Simmelsdorf auf die Gefahr hin, daß er Dich dort nicht mehr trifft, im Fall Du wirklich schon übermorgen Simmelsdorf verläßt; doch, denke ich, wirst Du wahrscheinlich Dich bewegen lassen – ich kenne Deine Schwächen etc. – noch den Sonntag über dort zu bleiben und so käme der Brief noch recht.

Ich will entweder Sonnabend oder Sonntag Abend von hier abreisen und bin dann den andern Mittag in Heidelberg, wo ich mich einen halben Tag und die Nacht aufhalten werde, doch könnte es sein, daß ich noch einen Tag länger festgehalten würde, wenn ich die Freunde dort finde. Der Brief, den ich dort von Dir poste restante5 erwarte, wird mir sagen, wo Du bist und mich erwartest. Lebe wohl, liebes Suschen, ich grüße die Kinder, die lieben Eltern und Verwandten.

Dein Geliebter und Getreuer.

NB. Wenn es möglich ist, gebe ich Dir von Heidelberg aus noch Nachricht über meine Ankunft.