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Ignaz Döllinger an Karl Hegel, München, 1. Juli 1868

Verehrter Herr!

Sie haben ganz richtig vermuthet, daß es ein Scholastiker sein muß, welchem Jak. von Königshofen im Anfang seiner Chronik nachgeschrieben habe. Es ist im Zweifel Petrus Lomardus. Deßen Sententien, das allgemeine dogmatische Lehr- und Handbuch des Mittelalters, hat er zu Grunde gelegt, oder vielmehr recipirt, namentlich lib. II, dist. 1: liget tanta est bonitas etc. verglichen mit dem Anfang der Chronik; Got in Ewigkeit etc. ferner lib. II, dist. 9: Notendum etiam etc. und den nächsten Absatz a quiebusdam tenere putatur etc. Mit den Worten des Chronisten: do wolte Got die Stette in dem Himele nut lere lossen u.s.w. endlich Sentent. Lib. II.. dist. 18 de formatione …, den Absatz: quare de latere vivi etc. mit der Angabe des Chronisten warum Eva aus der Ribbe des Adam gebildet worden. Hier hat er den Lombarden fast wörtlich abgeschrieben.

Alles freilich wird sich beim Lombarden nicht finden; daß der von Ihnen erwähnte Schwank anders woher genommen sein müßte, haben Sie selbst bemerkt. Auch die Angabe, daß die versuchende Schlange „einer schönen Juncfrowen Antlit hette“, ist mir im Lombarden nicht begegnet (vielleicht habe ich aber die Stelle übersehen). Es bleibt immer noch die Frage: Ob Königshofen unmittelbar oder mittelbar aus den Sentenzen geschöpft hat. Wäre der ganze Helinand gedruckt (leider hat Tissier nur die letzten Bücher dieses sagenreichen Chronisten herausgegeben), so fände sich da vielleicht die von Königshofen zunächst benützte Quelle.

Ich freue mich, Sie diesen Herbst hoffentlich wieder in München begrüßen zu können,1

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Ignaz Döllinger