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Karl Hegel an Immanuel Hegel, Erlangen, 21. September 1868

Lieber Manuel!

Empfange zuvor meinen brüderlichen Glückwunsch zu Deinem Geburtstagsfeste.1 Das Datum unserer beiden Geburtstage reicht weit in das rasch fortschreitende Jahrhundert zurück und bei Sterbefällen von Männern, die ihren Lebenslauf im Durchschnittsalter vollendet haben, fällt es mir bisweilen auf, daß ihr Geburtsjahr nicht so gar weit hinter dem meinigen zurücksteht. Also wird der unerbittliche Schritt der Zeit auch uns in den kommenden Jahren erreichen und unsere Generation auslöschen auf der Erde. Wir dürfen daher unsere Pläne nicht mehr weit in die Ferne stellen und müssen unsere Rechnung dem Abschluß näher bringen. Von meinen begonnenen Arbeiten möchte ich noch einige vollenden und, wenn ich auf Frau und Kinder hinblicke, so möchte ich besonders um ihretwillen mein Leben über die gewöhnliche Zeit hinaus verlängern, wenn ich auch kaum hoffen kann, meinen jüngsten Sohn groß zu ziehen. Doch wie es Gott gefällt! Dir wird es ebenso gehen, wie mir, mit dem Unterschied jedoch, daß Deine Kinder im Lebens- alter weiter voran sind und die väterliche Leitung früher entbehren können. Auch in Deinem Amt2 wirst Du noch Manches, was Dir am Herzen liegt, auszuführen wünschen oder das Begonnene vollendet zu sehen. Und vielleicht bist Du frei von der Unruhe, die mich treibt und meine Nerven aufregt, besonders in den Ferien, wo mich nur äußere Verwaltungsgeschäfte bei der Universität von der Arbeit abziehen und die Vorlesungen keine wohlthuende Unterbrechung  und Abwechslung bringen. Hoffentlich verspürst Du jetzt die wohlthätige Nachwirkung des Seebades, welche Du zuerst vermißt hast, nachdem die heiße Zeit vorüber ist und die schöne Witterung doch immer noch andauert. Mögest Du neu gekräftigt dem kommenden Winter entgegen gehen!

Du schriebst von den Besuchen lieber Verwandten, die Du seit langer Zeit nicht mehr gesehen. Unseren Vetter August hast Du richtig geschildert; er ist gewiß eine gute ehrliche Seele, aber ein schwaches Licht, er ist bis jetzt noch zu keinem Beruf gekommen. Es liegt eine große Gefahr für die Tucher’sche männliche Jugend in der vortrefflichen Stiftung zur Erhaltung des sog. Glanzes der Familie! An Beispielen dieser Art ist kein Mangel. Ich freue mich indeß von meinem Schwager Friedrich, den Forstwissenschaft Beflissenen, sagen zu können, daß er sich recht wacker macht, Freude an seinem künftigen Beruf hat und gewissenhaft seine Studienzeit zur Ausbildung benutzt. Auch ihm wünschte ich freilich, wie so vielen, daß er sich von angeborenen bayrischen und süddeutschen Vorurtheilen abhäuten möchte, glaube aber daß sie tiefer als bloß in der Haut sitzen. Von dieser jüngeren Generation erscheint mir als der Tüchtigste und Strebsamste von Allen einer, von dem man es am wenigsten erwartet hätte, Christoph in Würzburg, mit Paula Manz vermählt, der sich besonders seit seiner Verheiratung sehr zu seinem Vortheil verändert hat, und die junge Frau, welche um der unebenbürtigen, nur dem Verwandtenkreis fremden Familie willen, anfangs wie ein Eindringling betrachtet wurde, hat durch ihre jugendliche Frische und natürliche Anmuth im vergangenen Jahr zu Simmelsdorf Alle für sich gewonnen. Den quiescirten Appellationsrath Ferdinand und seine muntere Frau, die seine Verdrießlichkeit so liebenswürdig zu nehmen versteht, haben wir seitdem in Nürnberg in ihrer neuen Einrichtung auf dem Glockenhof gesehen. Die beiden unteren Stockwerke sind neu ausgebaut, eine Verandah und Balcon darüber nach der Ostseite gegen den Garten zu daran gesetzt, die eine, das Gebäude einschließende Mauer weggerissen. Dadurch sind zwei Wohnungen, eine oben und unten, für die beiden Familien von Ferdinand und Friedrich gewonnen; für die erstern in Sommer und Winter, für die letztern nur für den Sommer.

Frau A. Eichhorn wird Euch erzählen, wie sie es bei uns gefunden hat; leider sahen wir sie nur bei kurzem Besuch. Das Käthchen sieht recht wie ein Berliner Kind aus – was für ein Haarschopf! Ich wollte sie nicht mit den anliegenden Papieren belästigen, wie wohl ich gern das Porto gespart hätte. Es sind 10 Stück Cöln-Mindener Eisenbahn Aktien nebst doppeltem Verzeichniß, welches mit einzureichen ist zum Behuf der Abstempelung der Actien; sodann eine Obligation preußische 4 ½ Anleihe über 1000 Thaler. Das Papier steht seit der Zeit, daß ich darauf gesehen, constant zu 95 3/4, der Rest von 4 ¼ oder etwa 4 3/8 ist mit bar zu ergänzen. Habe die Güte das Fehlende vorzuschießen; denn ich glaube kaum, daß noch ein Guthaben von mir vorhanden ist; Deckung werde ich alsbald schicken, wenn Du mir den schuldigen Betrag angiebst. Ich zahle also die ganze Summe für 5 neue Actien Lit. B a 200 Thaler auf einmal, welche jährlich mit 5 pC.3 verzinst wird, zu Anfang des Jahres, also wohl auch Anfang 1869 für das Vierteljahr vom 1. October 1868 an. Der erste Zinscoupon der zu verkaufenden Obligation läuft erst vom 1. October an, also muß ich so viel Tage Zinsen darauf zahlen, als die Obligation vor dem 1. October verkauft wird. Deshalb bitte ich Dich diesen Termin so nahe als möglich herankommen zu lassen, da die Einzahlung bis zum 1. October inclusive statthaft ist. Entschuldige die Mühe, die ich Dir mit dieser Sache mache, und nimm meinen Dank dafür zum voraus.

Am nächsten Sonnabend 26. dieses Monats will ich nach München zur Jahressitzung der Historischen Commission abreisen4 und Annchen mitnehmen, damit sie die bayerische Residenz und ihre Schönheiten kennen lerne. Sie wird bei Onkel Gottlieb wohnen, der nun quiescirt5 ganz seiner Gesundheit und seinen kirchlichen Interessen leben kann. Er war in Ems und nachher glaube ich noch in Meran. Luise von Löffelholz hat uns gestern mit der Mutter hier besucht. Sie war im Stahlbad Steben im Fichtelgebirg6 und auf der Durchreise nach München zurück. Meine Commissionssitzung wird etwa bis zum 5. October dauern. Solange bleibe ich also in München im Gasthof zum goldenen Bären, der gut gelegen ist nahe bei dem vormaligen Leuchtenbergischen Palais, wo wir einst mit einander den schönen Murillo7 und Anderes sahen.8 Es wäre mir lieb, wenn Du mir mit ein Paar Zeilen über den Empfang der Papiere entweder noch hierher nach Erlangen oder dorthin Nachricht geben möchtest. Denn von München aus eile ich noch weiter nach Straßburg – von Annchen trenne ich mich in Augsburg, wo sie die Tante Crailsheim besuchen kann – wo ich 14 Tage bleibe9, so daß ich erst um den 24. October wieder in Erlangen eintreffen werde. Wenn Anna in Erlangen zurück ist, wird meine Frau mit Luischen am 8. October über Frankfurt und Homburg nach Friedrichsdorf reisen, um sie dort in’s Institut10 zu bringen.11 Das liebe Kind freut sich außerordentlich darauf und wird von der Mama neu ausgestattet. Ich hoffe, daß es ihr dort unter ihresgleichen in der Zahl von einigen 30 jungen Mädchen und bei der lieben Frau Pastor Bagge recht wohl gefallen, daß sie Manches lernen und ihre große Empfindlichkeit etwas ablegen wird, welche ihr das Verhältniß zu den Geschwistern einigermaßen erschwert.

Ich schrieb Dir, glaube ich, daß wir einen Berliner Professor Paalzow für die Professur der Physik vorgeschlagen haben; die Besetzung vor dem nächsten Semester ist dringend. Unser Ministerium hat nichtsdestoweniger bis jetzt gezögert mit der Bestätigung unseres Vorschlags und nun erst müssen wir erfahren, daß der Mann nicht gefällt, weil er ein Preuße und Berliner ist. Wir versuchen jetzt durch Absendung einer Deputation nach München in dieses absurde System des bornirtesten bayrischen Particularismus eine Bresche zu legen, wie es schon einmal nicht ohne Erfolg geschehen ist.

Meine Frau und Annchen vereinigen ihre Glückwünsche mit den meinigen und ebenso ihre Grüße mit den meinigen an die liebe Clara und die Kinder.

In herzlicher Liebe
Dein Bruder Karl.