München, 29. September
1868
im Goldenen Bär
Morgens 7 Uhr
Guten Morgen liebes Suschen!
Zwei Nächte waren wir nun bereits in der bayrischen Residenz, wo sich bekanntlich ganz gut leben läßt: ich im Goldenen Bären in der Fürstenstraße, Annchen und Röschen in der Brienner Straße 45.
Unsere Fahrt vorgestern kam uns zuletzt recht langwierig vor, zwischen Donauwörth und Augsburg, zwischen Augsburg und
München. Anfangs gab es mehr Abwechslung und Unterhaltung. In Nürnberg war Friedrich mit seinem Töchterlein, der sich zu uns setzte und mit Annchen viel zu plaudern und zu scherzen hatte. Dort schlossen sich ferner der College
Thomasius mit seiner Schwägerin Diez an, welche bis Eichstädt mit uns fuhren, in dessen Nähe sie einen alten Onkel an seinem Jubeltag überraschen wollten. Ein junger aber schwindsüchtig aussehender Livländer war die einzige ständige Begleitung von Erlangen bis hierher.
Es erwartete uns wirklich Niemand am Bahnhof. |
Mittelst des Omnibus des Goldenen Bären brachte ich Fräuleins und Gepäck in die Brienner Straße und mich selbst an’s Ziel. Nachher erst stellte ich mich selbst beim Onkel vor, oder vielmehr bei der Tante, denn er selbst hatte mit einem Hauskauf für Diakonissen zu thun und war nicht zu Hause. Sie war sehr lieb und freundlich, ein wenig unwohl; ferner Anna und Sigmund. Die beiden Mädchen haben zusammen die hübsche Gaststube vorn heraus nach dem Platz und der Schillerstatue gegenüber. Ich machte mit den jungen Leuten einen schönen Abendspaziergang bei der Residenz vorüber durch die Maximiliansstraße, über die Isar nach den schönen Anlagen auf dem Gasteig, wo man Fluß und Stadt übersieht. Der Himmel war etwas trüb; es hatte auch am Tage und bei uns unterwegs geregnet. Abends waren wir zusammen beim Onkel, wo sich auch Alexander Harsdorf einfand, dessen Familie erst heute von Starnberg zurückkehren wird. Von Ferdinand dem Appellations-Rath hörte ich nur, daß er noch da sei – sein Sohn hat die Nachprüfung bestanden – sah ihn aber nicht.
Gestern hatten wir einen Regentag; in der Nacht hatte es vom Himmel gegossen. Ich besuchte am | Vormittag die Bibliothek, die jungen Leute die Glyptothek. Mittags fanden wir uns beim Onkel zusammen. Am Nachmittag bei Regen besuchten wir die schöne Basilica oder Bonifaciuskirche, gingen dann in die Stadt, sahen die Frauenkirche und Anderes. Endlich Abends um 7 Uhr holte ich Annchen wieder ab, und machte mit ihr Besuch bei Giesebrechts, die uns sehr freundlich empfingen und den Abend über festhielten, so daß ich das Töchterlein erst um 10 ½ Uhr nach Haus brachte, wo nur Anna und Sigmund noch auf waren. Giesebrechts waren erst am Tage vorher aus Kufstein und Oberitalien zurückgekehrt, ihr Sohn nicht bei ihnen. Bei Löffelholz waren die Mädchen schon gestern Vormittag, trafen aber nur ihn, sie war unterdeß bei Tucher’s; dann bin ich ihm am Nachmittag begegnet auf der Straße mit Luischen; er sah gut aus, doch trennten wir uns wieder. Ich werde heute dort Besuch machen. Unterdessen wird sich Löffelholz überlegt haben, was er mit uns machen soll.
Heute Vormittag gehe ich zuerst in die Bibliothek, dann mit den Mädchen in die Allerheiligen Capelle und in die Residenz, wenn wir dort ankommen. Nach dem Theater habe ich mich gestern morgen gleich erkundigt; es werden heute und morgen Lustspiele gegeben; für den Sonntag zur Oktoberfestoper, welche wahrscheinlich Oberon sein wird, | habe ich Billette belegt; hoffentlich findet sich auch noch am Donnerstag oder Freitag Gelegenheit etwas Schönes zu sehen.
Annchen soll Dir morgen schreiben; es geht ihr wohl und sie freut sich über alles Neue und Schöne, was sie sieht und genießt. Heute Abend erwarte ich meine historischen Collegen, morgen beginnen die Sitzungen. Im Goldenen Bären haben sich noch Director Hagen und College
Heineke angekündigt, welche zur medicinischen Staatsprüfung auf mehrere Wochen einberufen sind.
Hoffentlich geht es Dir, liebes Suschen, und unseren Kindern ganz gut. Ist Georg fleißig? was machen Luischen, Marie, Sophiechen, Mundel und
Gottlieb? Ich habe vergessen Dir meine Blumen zu empfehlen. Laß den Oleander nicht erfrieren und nimm den Feigenstock in die Stube herein; begieße jenen viel, diesen alle Tage etwas. Laß meine Passionsblume nicht vertrocknen; sie müssen Morgens und Mittags begossen werden und Sonne haben. Und nun lebe wohl. Schreibe recht bald und gedenke mein. Herzliche Grüße an die Kinder.
Hegel, KarlKarl Hegel
HiKo
11657075X
Hegel, Susanna Maria Karoline Henriette, geb. Tucher
Susanna Maria Hegel, geb. Tucher116146891918261878Hegel, Susanna Maria Karoline Henriette, geb. Tucher (1826–1878), häufig „Susette“ genannt, Tochter Johann Sigmund Karl Tuchers (1794–1871) und Maria Magdalena Tuchers, geb. Grundherr (1802–1876), Ehefrau Karl Hegels (1813–1901); siehe auch: Tucher, Susanna Maria.
München48.1371079,11.5753822Haupt- und Residenzstadt des Königreichs Bayern an der Isar in Oberbayern.
Privatbesitz
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Privatbesitz
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Neuhaus
, Helmut: 150 Jahre Historische Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Eine Chronik, München 2008.
Neuhaus
, 150 Jahre Historische Kommission
2008
Thomasius, Gottfried11735025718021875Thomasius, Gottfried (1802–1875), aus der Nähe des fränkischen Neustadt an der Aisch stammender evangelisch-lutherischer Theologe und Nachfahre des frühaufklärerischen Philosophen Christian Thomasius (1655–1728), der von 1821 bis 1825 Theologie und Philosophie an den Universitäten Erlangen, Halle und Berlin studierte und dann zunächst Pfarrer und Gymnasiallehrer in Nürnberg wurde. Von 1842 bis zu seinem Tode war er ordentlicher Professor der Theologie an der Universität Erlangen und Universitätsprediger. Der Ehemann der Caroline Sophie Lehmus war zusammen mit seinem Kollegen Johannes Hofmann (1810–1877) einer der maßgeblichen Theologen der Erweckungsbewegung.
Tucher, Sigmund Georg KarlSigmund Georg Karl Tucher116154400318481931 Tucher, Sigmund Georg Karl (1848–1931), Sohn Christoph Karl Gottlieb Sigmund Tuchers (1798–1877) und Thekla Therese Eleonore Tuchers (1813–1901), Rittergutsbesitzer.
Grundherr, Karl-18561936Grundherr, Karl (1856–1936), Sohn Ferdinand Grundherrs (1808–1882) und Stephanie Grundherrs (1825–1902), trat 1867 ins königlich bayerische Militär ein.
Giesebrecht, Wilhelm FriedrichWilhelm Giesebrecht
HiKo
11871736718141889Giesebrecht, Wilhelm Friedrich (1814–1889), in Berlin geborener Historiker, der 1851 außerordentlicher Professor der Geschichte an der Universität Königsberg wurde, von 1857 bis 1861 dort Ordinarius und anschließend bis 1889 an der Universität München war. Im Jahre 1858 wurde er Gründungsmitglied der Historischen Kommission bei der bayerischen Akademie der Wissenschaften und von 1862 bis 1889 deren Sekretär. Im Jahre 1875 wurde er Mitglied der neugeschaffenenen Zentraldirektion der MGH in Berlin und wurde Mitglied des Verwaltungsrates und Gelehrtenausschusses des GNM in Nürnberg.
Löffelholz, Ludwig (Louis) Georg Karl116913792X18151906Löffelholz, Ludwig (Louis) Georg Karl (1815–1906), ab 1860 Ehemann von Antoinette Luise Löffelholz, geb. Crailsheim (1831–1861), nach deren Tod ab 1865 Ehemann von Luise Caroline Marie, geb. Tucher (1836–1901), Oberst der königlich bayerischen Armee, Schwager Karl Hegels.
Hagen, Friedrich WilhelmFriedrich Wilhelm Hagen11637876X18141888Hagen, Friedrich Wilhelm (1814–1888), in Mittelfranken geborener praktischer Arzt und Psychologe, der ab 1827 Theologie und Medizin an den Universitäten Erlangen und München studierte und 1836 promoviert wurde. Im Jahre 1859 wurde er Direktor der im Auf- und weiteren Ausbau befindlichen Irrenanstalt in Erlangen, von1860 bis1887 war er Privatdozent und außerordentlicher Professor der Psychiatrie an der Universität Erlangen.
Heineke, Walter Hermann11665984X18341901Heineke, Walter Hermann (1834–1901), in Schönebeck an der Elbe als Sohn des praktischen Arztes und Medizinalrates Christian Friedrich Heineke (1798–1857) geborener Mediziner, der an den Universitäten Göttingen, Berlin, Leipzig und Greifswald studierte und im Jahre 1858 zum Dr. med. promoviert wurde. 1863 habilitierte er sich und war von 1867 bis 1901 ordentlicher Professor für Chirurgie und Augenheilkunde an der Universität Erlangen. Im Sanitätskorps der Königlich Bayerischen Armee war er Generalarzt mit dem Rang eines Generalmajors à la suite.
Hegel, Maria (Mariechen, Mimi)Marie HegelTochter Karl Hegels-18551929 Hegel, Maria (Mariechen, Mimi) (1855–1929), dritte Tochter Karl (1813–1901) und Susanna Maria Hegels, geb. Tucher (1826–1878), die ab 1878 dem verwitweten Vater den Haushalt in Erlangen führte.
Hegel, Sophia (Sophiechen)Sophie Hegel-18611940Hegel, Sophia (Sophiechen) (1861–1940), vierte und jüngste Tochter Karl und Susanna Maria Hegels, geb. Tucher (1826–1878); sie blieb unverheiratet und absolvierte Stationen in München und Göttingen in den Haushalten der Schwestern Luise Lommel, geb. Hegel (1853–1924), und Anna Klein, geb. Hegel (1851–1927), später eine ca. 20 Jahre währende Tätigkeit als Lehrerin/Erzieherin an einem englischen Mädchenpensionat in Malvern, ab 1910 wieder in der Familie ihrer schwerhörigen Schwester Anna Klein lebend und dort vor allem in der Erziehung und Krankenpflege helfend; spätere Arbeit im sozialen Bereich in Göttingen.
Hegel, Sigmund (Mundel, Mundulus, Munerle)Sigmund Hegel11657085718631945Hegel, Sigmund (1863–1945), sechstes Kind (zweiter Sohn) Karl (1813–1901) und Susanna Maria Hegels, geb. Tucher (1826–1878), Mitglied des Corps Onoldia in Erlangen, Chemiker, Kaiserlicher Geheimer Regierungsrat am Reichspatentamt in Berlin.
Hegel, Gottlieb (Friedrich)Gottlieb Friedrich Hegel-18671874Hegel, Gottlieb (Friedrich) (1867–1874), achtes und jüngstes Kind Karl und Susanna Maria Hegels (1826–1878). Er wurde am 22. November 1867 im elterlichen Haus in Erlangen geboren und starb dort am 31. März 1874 an der Bräune.
Donauwörth48.7180364,10.7807299Stadt an der Donau, die seit 1714 zu Bayern gehörte, etwa 100 Kilometer südwestlich von Nürnberg und etwa 120 Kilometer nordwestlich von München gelegen.
Augsburg48.3668041,10.8986971Auf römische Zeit zurückgehende alte Reichsstadt des Heiligen Römischen Reiches und Bischofsstadt am Lech, etwa 65 Kilometer nordwestlich von München gelegen und seit 1806 zum Königreich Bayern gehörig.
Nürnberg49.453872,11.077298In Franken an der Pegnitz gelegene ehemalige Reichsstadt, seit 1806 Stadt des Königreichs Bayern.
Eichstätt (Eichstädt)48.8933417,11.1838965Die Bischofsstadt Eichstätt liegt an der Altmühl, knapp 100 Kilometer südlich von Nürnberg.
Erlangen49.5928616,11.0056Mittelfränkische Universitätsstadt, etwa 20 Kilometer nördlich von Nürnberg gelegen, seit 1810 Stadt und Universität des Königreichs Bayern.
IsarIm österreichischen Teil des Karwendel-Gebirges entspringender, etwa 290 Kilometer langer Fluß durch Tirol und Bayern, der südlich von Deggendorf in die Donau mündet.
Gasteig (München)48.13155825,11.590841695440865Südöstlich der Münchener Innenstadt nahe der 1828 eingeweihten, nach dem bayerischen König Ludwig I. (1786-1868) benannten Ludwigsbrücke gelegener Aussichtspunkt oberhalb des rechten Isar-Ufers.
Starnberg48.0001038,11.3508972Stadt an der Nordspitze des gleichnamigen Sees im Südwesten Münchens.
Kufstein47.582996,12.1692134Circa 90 Kilometer südöstlich von München und südlich des Chiemsees am Inn sowie an der Grenze zwischen Bayern und Tirol gelegener Ort mit Festung, der 1814 dauerhaft österreichisch wurde.
„Goldener Bär“, auch: goldner Bär (München)Gasthof und Hotel in der Fürstenstraße in München.
Schillerstatue (München)Das Schillerdenkmal am Maximiliansplatz in München hatte König Ludwig I. von Bayern (1786-1868) in Auftrag gegeben und wurde 1863 aufgestellt und enthüllt.
Residenz (München)In der Innenstadt Münchens gelegenes Stadtschloß der bayerischen Monarchen von den Herzögen bis zu den Königen des 19. Jahrhunderts.
Maximilianstraße (München)In südöstlicher Richtung zwischen Münchener Residenz und Isar verlaufende Prachtstraße Münchens, mit deren Bau Mitte des 19. Jahrhunderts begonnen wurde.
AppellationsratRichter am Berufungsgericht.
Bibliothek (München)1843 fertiggestellte Hof- und Staatsbibliothek des Königreichs Bayern in der Ludwigstraße, die auf die wittelsbachische Hofbibliothek der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts zurückgeht.
Glyptothek (München)Von König Ludwig I. von Bayern (1786-1868) initiierter Museumsbau für antike Skulpturen am Königsplatz.
Bonifaciuskirche (München)Basilika der 1850 gegründeten Benediktiner-Abtei St. Bonifaz, südlich des Königsplatzes gelegen.
Frauenkirche (München)Spätgotischer Dom zu Unserer Lieben Frauen innerhalb der Münchener Altstadt, seit 1821 Kathedralkirche des Erzbischofs von München und Freising.
Allerheiligen Capelle (München)Die von 1826 bis 1837 erbaute Allerheiligenhofkirche im östlichen Teil der Münchener Residenz war der erste Kirchenneubau im Königreich Bayern.
OktoberfestSeit 1810 in der Regel jährlich in München auf der Theresienwiese stattfindendes Herbstfest für die Bevölkerung mit landwirtschaftlichen Ausstellungen.
„Oberon“Romantische Oper in drei Akten von Carl Maria von Weber (1786-1826), deren Londoner Uraufführung der Komponist 1826 noch erlebte, nicht aber mehr die deutsche Erstaufführung in Leipzig am Ende des Jahres.