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Karl Hegel an Immanuel Hegel, Erlangen, 29. Dezember 1868

Lieber Manuel!

Recht lange habe ich auf Antwort warten lassen, ohne besonderen Grund. Vor Allem danke ich Dir für die Übersendung meines Jahresconto und die Mühe, welche Du dabei übernommen hast. Es steht darauf noch eine Forderung von 31 Thalern 17, welche ich Dir schuldig bin. Ich bitte Dich, sie mit der Abschlagsdividende der Cöln-Mindener Stammactien zu 5 %, welche am 1. Januar ausbezahlt wird zu decken, und mir den Rest von 100 Th[alern weniger jene Schuld, zu übersenden. Der Kauf der Cöln-Mindener, zu dem mich Ebelings Gaunerei veranlaßt hat (denn er wußte sicher schon von dem neuen Unternehmen der Gesellschaft, welches, so wie es bekannt wurde, die Actien herunterdrücken mußte), hat mich schon oft bitter gereut, die Amerikaner2 sind gestiegen und besser geworden, die Cöln- Mindener immer schlechter und weniger rentabel, wie der monatliche und Jahresausweis zeigt; wäre ich in Berlin, ich hätte sie längst losgeschlagen, nun da ich in Erlangen bin, lasse ich’s geschehen und hoffe auf bessere Zeit. Hier zu Lande wird am meisten in Österreichischen Eisenbahnprioritäten gemacht, welche 6 – 7 Procent abwerfen. –

Das Weihnachtsfest ist vorüber mit seinem Lichterglanz und seinen Kinderfreuden. Wir haben es zuerst hier im Hause am Weihnachtsabend gefeiert, sodann noch einmal bei den Eltern am ersten Feiertag Abend. Sonst war die Feier hier und dort um einen Tag früher; dismal that es der Vater der Alles vermögenden Frau Stephanie (Appellations Rath Grundherr) zu Liebe, welche die Eltern am Heiligen Abend durchaus bei sich auf dem Glockenhof haben wollte. Und was hatte sie nicht Alles aufgebaut: ein Paar militärische Zelte nebst Einrichtung groß genug um die Jungens aufzunehmen, einen zoologischen Garten mit Springbrunnen, einen großen bespannten Omnibus, ein Pulcinellkasten nebst obligatem Leierkasten; an solchen Dingen hat sie selbst die größte Freude und ihr Brummbär von Mann läßt es sich um ihretwillen gefallen. Unsere Kinder hatten am Heiligen Abend ihren Weihnachtsbaum und nicht eben viele oder reiche Geschenke, welche ihre Completirung noch in Nürnberg erwarteten. Dort war die Bescherung ausgedehnt auf die Enkel, deren von uns 6, von Max Crailsheim 4 zugegen waren, und sehr glänzend. Für die Enkelein hatte die gute Mutter mit liebevoller Sorgfalt zusammen getragen, was für jedes Alter und Sinnesweise am besten paßte und am meisten Freude machen konnte, hübsche neue Spiele, Eßwaren, nothwendige Bedürfnisse an Kleidungsstücken und Lerngegenständen. Zugegen waren außer uns Crailsheims, alt und jung, in 3 Generationen, August Grundherr und Marie aus Schweinfurt, welche bei den Eltern einlogiert sind, Schwager und Bruder Friedrich, Forststudent in Aschaffenburg, dann alle Leitheimer mit einander, Onkel, Tante, drei erwachsene Töchter, zwei erwachsene Söhne und der noch unerwachsene schwächliche Fritzel – also ein zahlreicher Kreis, der die Weihnachtsstube ziemlich beengte. Die glänzende Weihnachtsbescherung bei der guten Lina, welche ein anderer Sammelpunkt für eine zahlreiche Verwandtschaft ist, war gleichzeitig mit dieser und wurde von uns erst am folgenden Tage gesehen. Ich bin am Sonntag3 Abend mit Anna undGeorg hierher zurück gefahren, um diese letzten Tage des Jahres in feierlicher Ruhe und Arbeit zuzubringen, und werde den Jahreswechsel wieder mit der vereinigten Familie in Nürnberg, wie herkömmlich, feiern.

Ich denke nicht, daß Du mit unserem bisherigen Leben in den letzten Wochen unbekannt geblieben bist, und komme deshalb weder auf unsere jugendliche Ballgesellschaft, welche für das Hegel’sche Haus Epoche gemacht hat, noch auf öffentliche Vorlesungen, Concerte und dergleichen zurück. An unserer Universität hatten wir mehrere Verluste zu beklagen; der Physiker Beetz ist an das neue Polytechnicum in München versetzt, der Mathematiker Hankel aus Leipzig, der sich erst seit kurzem bei uns niedergelassen und mit einer Schwerinerin verheiratet hat, ist nach Tübingen berufen worden; der Botaniker Schnitzlein, der Zoolog Will sind mit Tod abgegangen. Nur die Stelle des Physikers ist wieder besetzt mit einem Bayern Lommel, den uns das Ministerium octroyiert hat, weil wir nur Ausländer und an erster Stelle einen Preußen und Berliner (Paalzow) vorgeschlagen hatten. Der gegenwärtige Minister hat es kein Hehl4, daß Preußen am wenigsten, lieber Österreicher Süddeutsche, Schweizer selbst vorgeschlagen werden sollen, wenn es keinen Bayern giebt. Von dem König geht dieser stärkere Nativismus und die Antipathie gegen die Preußen aus. Man erkennt darin die tiefer liegende Gesinnung. Nicht anders ist es zu Würtemberg. Wenn die Furcht sie nicht bände, wären sie offene Feinde! Ich lese rücksichtslos über Neueste Geschichte und gedenke das Jahr 1848 noch zu überschreiten; daneben Mittelalter – und bin durch diese Vorlesungen so beschäftigt, daß ich meine literarischen Arbeiten zurückstellen muß.

In Schelling’s Nachlaß, welcher sich hier in den Händen eines meiner jüngeren Collegen, Plitt a. o. Professor der Kirchengeschichte und Schwiegersohn meines Collegen Schelling, befindet, haben sich noch mehrere Briefe unseres Vaters an Schelling und auch einige an Windischmann vorgefunden, welche Plitt mir mitgetheilt und von welchen ich Abschrift genommen habe. Plitt selbst will die Briefe Schellings als Fortsetzung der von dem verstorbenen ältesten Sohn5 des Philosophen, Decan in Würtemberg, begonnenen Biographie herausgeben.6 Ich werde jene von Annchen gefertigten und von mir verglichenen Abschriften an Rosenkranz überschicken, der davon vermuthlich in seinem neuen Buch über unseren Vater Gebrauch machen wird. Übrigens bin ich mit dem Titel desselben sehr unzufrieden: „Hegel als Classiker“, was auf eine Paradoxie und, offen gesagt, absurde Apologie hinauszulaufen scheint, womit man der literarischen Welt von vorne herein vor den Kopf stößt, ehe sie das Buch selbst nur ansieht. Ich werde ihm meine Meinung darüber nicht vorenthalten. Der Titel sollte einfach lauten: Hegel, ein biographisches Denkmal zu seinem 100jährigen Geburtstag, oder ähnlich, und das Buch nur eine populäre Bearbeitung im Auszuge aus der schon vorhandenen Biographie sein. Der Angelegenheit der Schleiermacher Feier7 bin ich in den Berliner Zeitungen, die ich regelmäßig sehe, gefolgt. Dein consistorialer Erlaß hat hier bei uns einen sehr guten Eindruck gemacht. Ich bin begierig, wer Propst bei St. Nicolai wird, wohl Brückner? Was macht Bismark, ich meine sein Befinden? Giebt es einen größeren Wirwar8 der Meinungen als in Württemberg? Man schreibt mir von dort, daß der König entschlossen war, die Kammer aufzulösen, wenn die Adresse der Majorität (demokratische Volkspartei) angenommen worden wäre. Die unsrige Seite9 hat dagegen gestimmt, weil das Amendiment10 von den Verträgen 11 stand; dadurch allein ist sie gefallen. Wahrscheinlich wird es nun beim Budget klappen und zum Bruch kommen, und das ist der republikanischen Partei lieber, damit sie hierbei auf den Haufen zählen kann.

Grüße die liebe Clara und Deine Kinder herzlich. Euch Allen meine innigsten Glückwünsche zu dem Neuen Jahr 1869!

Treulich Dein Bruder Karl.